mein vaterland ist die welt
meine religion ist das gute
meine familie ist die menschheit
Fermín Salvochea
Kleine Fluchten! Sicher, die Vorstellung ist abgegriffen, längst in die Jahre gekommen. Doch für Wanderungen und Fußreisen bildet sie noch immer einen geeigneten Fokus. Es gibt auch die großen Fluchten, die auf Fernwanderungen lange Zeit durch die Welt führen. Flucht, Eskapismus, ein übel beleumundetes Konzept. Hinter Vorurteilen verborgen, trägt er angeblich Realitätsflucht im Gepäck. Zugegeben, der Begriff ist mehrdeutig. Eine Flucht kann mehreren Funktionen dienen. Jemand flieht vor alltäglichen Konflikten, besonders ihren negativen Aspekten, und entzieht sich der Verantwortung. Oder er zieht sich eine Weile zurück, um sich zu sammeln und neue Energien zu mobilisieren. J.R.R. Tolkien fragt, wer es einem Gefangenen verübeln kann, wenn er von einer Welt jenseits von Kerkermauern träumt?
Bereits die kleinen Wanderungen führen für einen ausgedehnten Augenblick aus der Enge der Stadt in die Weite der Landschaft. Warum verlässt jemand das komfortable Nest, das er sich in der Stadt eingerichtet hat? Würde der Mensch nicht sehnen, träumen, wünschen, wohin würde er überhaupt kommen? Die Weite des Himmels senkt sich in die Brust des Wanderers, der in dieser Weite aufgeht. Die offene Landschaft, in der nur scheinbar alles durcheinander geht, nimmt den Wanderer in ihre Struktur auf. Er spürt sie im Gehen am eigenen Leib: den unebenen Weg; die Temperatur der Luft; die Wärme der Sonne auf der Haut, ihre brennende Hitze; das Wehen, Säuseln und Brausen des Windes; die Aromen des Bodens, der Pflanzen und der Tiere; die vielen Laute der Stille, ein kurzes Knacken, ein schnelles Rascheln oder Flattern, nicht identifizierbar, weil das Visuelle fehlt; die landwirtschaftlich verursachten Störungen der natürlichen Balance, die Wunden der Natur, deren Disharmonie, Geometrie, Hässlichkeit und Gestank mich immer wieder einmal im Vorübergehen streift. Immer aufs Neue und immer wieder anders: die Berührung von Sonne, Wind und Regen, Hitze, Kälte und Feuchtigkeit auf meiner Haut. Meine Empfindungen, wenn die Zeit in einem Augenblick der Entrückung stillsteht. Die vagen Töne und Klänge, die sich im Hintergrund der Stille schwach wahrnehmbar abheben. Das Orchester des Waldes, wenn nichts Fremdes stört, die Symphonie der Wellen in den Klippen am Meer, das leise, streichelnde Murmeln und Pfeifen des Windes oben am Berg. Die Enge der Brust in plötzlichem Erschrecken, wenn der Weg unerwartet im Weglosen endet. Wenn unheimliche Empfindungen den Wanderer bedrängen, die unmittelbar nach mentaler Bewältigung drängen. Der leichte Schauer, der fast angenehm den Rücken hinunter rieselt, das erregende Kribbeln im Bauch, wenn etwas nicht stimmt, und ich nicht erkennen kann, was es ist. Immer wieder verändert sich die Mentalität der Landschaft um mich herum: ihr Licht, ihre Farbigkeit und ihr Geruch; die wechselnden Geräusche meiner Schritte, das Zwitschern der Vögel und Summen der Insekten. Wer einmal stundenlang im Regen gewandert ist, durchnässt bis auf die Haut, tagelang unter brennender Sonne, bis das reine Blau des Himmels, die Brauntöne der Erde und das tiefe Grün des Landes alles ausfüllen. Immer wieder durstig, weil das Wasser niemals reicht, dem tätowiert die Natur ihre Muster auf die Haut. All dies verschwimmt zu einem vielsagenden, ganzheitlichen Eindruck, der sich in Empfinden und Gefühl ausdrückt. Unlöschbar! Wer das erlebt hat, der will immer wieder hinaus oder nie wieder. Alles, was im Dickicht der Städte meinen Sinnen entschwindet, geben mir meine Wanderungen zurück.
Die zehn Essays dieses Blogs ersetzen keinen Wanderführer. Sie wollen auch keiner sein. Ich erzähle von einigen Wanderungen im Frühjahr 2019 in Andalusien: eine subjektive Perspektive. Niemand kann mit diesen Texten dieselbe Wanderung unternehmen; eine gleiche, eine ähnliche, vielleicht. Doch es ist besser, er sucht sich seine eigenen Wege im Gelände, denn nur das bietet die emotionale Intensität auf fremden Pfaden, die dem Reiz des Wanderns innewohnt. Im Wandern liegt keine Gefahr, sondern eine Chance. Wandern ist das Zwiegespräch mit sich selbst und der Natur, dem der urbane Alltag selten Platz lässt. Es ist unmöglich geworden, sich in Europa gänzlich zu verlaufen oder gleich ganz verloren zu gehen. Die Gefahr ist allerdings groß, sich an das Wandern zu verlieren. Doch wer mit einem gedruckten Führer wandert, der macht die Wanderung eines anderen. Ganz nebenbei bemerkt, vertrete ich meine eigene Theorie des Gehens.
Der Süden Spaniens wirkt topographisch recht einheitlich. Hohe Berge, die bis dicht ans Meer reichen, ein schmaler, flacher Küstenstreifen sowie zahlreiche Buchten und Strände, feiner Sand oder grobe Kiesel, die das unermüdliche Wasser dem Land abgetrotzt hat. So ist die andalusische Landschaft, die Kultur ist um Vieles mehr.
Wandern in Andalusien bedeutet Gehen zwischen Berg und Meer. Am Meer entlang, sieht der Wanderer auf die Berge, die ihn landwärts begrenzen. Auf seiner anderen Seite liegt das Meer, das grenzenlos scheinende Wasser, der geheimnisvolle Horizont. Er erinnert mich an die Scheibe, durch die ein intuitiver Bogenschütze seinen Pfeil schickt. Jenseits dieser fernen Linie setzen Fantasie und Imagination die Reise fort. In Andalusien kontrastieren die Enge der Berge, das Düster der Schluchten und die unerwartete Öffnung der Täler mit der ausgedehnten, geheimnisvollen Weite des Meeres, dessen blaue Oberfläche das Licht der Sonne spiegelt. Ein Wechselspiel von Engung und Weitung trifft mich am eigenen Leib, während ich auf einen Berg steige oder man Spülsaums des Meers entlangwandere. Hoch oben in den Bergen finde ich oft einen Blick hinab aufs Meer, während mir der Wind den Geruch von Tang und Salz entgegen bläst. In den Klippen am Rand einer Steilküste durchdringen sich die beiden Atmosphären und integrieren mich in die Landschaft.
Auf zehn Tageswanderungen, und zahlreichen Spaziergängen, habe ich die andalusische Landschaft durchstreift, habe in weißen Dörfern und bunten Städten gewohnt, bin über Hügel und Berge gestiegen und mit den Füßen durch das schäumende Wasser am Strand. Andalusien bietet viele Wanderungen, und noch viel mehr sind möglich. Warum gerade diese Wanderungen? Sie haben sich ergeben, weil ich dort war und neugierig. Ich habe sie nicht gesucht. Und sie haben sich mir auch nicht aufgedrängt. Es hätten mehr sein können, aber dieses Mehr wäre kein Mehr an Qualität gewesen, nur ein Mehr des Gleichen.
Ich bin in meinem Leben viel gereist, doch die Erfahrungen meiner ersten Reise enthalten alles, was auf einer solchen erlebbar ist. Bewusst geworden ist mir das erst viel später. Die Intensität und die Erfahrungen mehren sich mit der Dauer und der Länge einer Reise; und die Kompetenz im Loslassen des Vertrauten. Die Qualität des Erlebten verdichtet sich, weil die Neugier nur schwer zu befriedigen ist. Reisen ist das Verlassen der Heimat in eine fremde Umgebung, die vertraut gemacht werden will. Reisen bedeutet Zurücklassen: gewohnte Routinen, den sicheren Alltag, ein temporärer Abschied. Jede Reise führt in ein Dazwischen, ob es der Reisende bemerkt oder nicht, in eine Liminalität auf Zeit. Reisen verändert. Reisen ist ein Ritual - eine rite de passage, ein Übergang. Die Menschen, so verschieden sie scheinen, sind letztlich nicht so unterschiedlich. Und die Landschaften wiederholen sich, ohne langweilig zu werden. Jede Reise ist eskapistisch, auch wenn lapidar von Ferien oder Urlaub gesprochen wird. Die heilende Wirkung auf Psyche und Körper, die Erholung, tritt nur ein, wenn die Flucht gelingt. Oft bringen schon die ersten tastenden Schritte die Veränderung. Wen der Bann des Wanderns trifft, wird immer weiter gehen, gleichgültig, welche Unterbrechungen und Umwege notwendig sind. Jede Reise ist eine Bewegung im Raum, Erinnerung eine Bewegung in der Zeit. Keine Erfahrung äußert nur das, was ein Ereignis, eine Landschaft, eine Begegnung oder einen Ort abbildet. Jede Erfahrung knüpft an frühere Erinnerungen an: Bilder, Vor-Bilder, Wege, Bewegungen, Stimmungen. Keine Wanderung ist wiederholbar. Jede Wanderung enthält den Reiz des Erstmaligen, Unverwechselbaren, Authentischen. Sie führt uns, wenn sie gelingt, an den Kontrapunkt der Zivilisation, und gibt uns das Gefühl zurück, wir selbst zu sein. Reisen wird zum Erinnern, und der Weg der Erinnerung fördert alles Mögliche aus unbewussten Tiefen. Keine Reise führt nur durch äußere Räume. Wer das glaubt, der irrt.
Über die Fremde und das Erlebte angemessen zu schreiben, ist fast unmöglich. Immer bleibt es Versuch, Gelebtes im Nachhinein in das Kostüm der Sprache zu kleiden. Silben anstatt Gespürtes, Worte anstatt Gefühltes, Sätze anstatt Erlebtes. Die gesammelten Eindrücke und Erfahrungen neigen dazu, sich während des Schreibens der rückblickenden Vereindeutigung zu verweigern. Der retrospektive Blick ist Hervorbringung, nicht Nachahmung des schon nicht mehr Gleichen. Die Befremdung durch die Fremde, das ausgrenzend Un-Heimliche - im Sinne von nie Heimat werden können - lässt sich nur in Begriffen der eigenen, bereits wieder vergangenen Struktur begegnen. Dem Fremden bleibt in der Fremde stets ein Stück Heimat. Daran ändert auch die Perspektive nichts.
Herman Melvilles Abenteuerroman Moby Dick ist nicht gerade das Buch, an das man denkt, wählt man eine Reiseerzählung aus. Dennoch definiert Melville in seinem Roman die ultimative Metapher für die Sehnsucht nach Neuem und Aufbruch, den er für das Leben selbst hält: Das ist so meine Art, den Trübsinn zu verjagen und die Säfte wieder in Fluss zu bringen. Immer wenn ich merke, dass ich grämliche Falten um den Mund bekomme, immer wenn müder, nieselnder November meine Seele erfüllt [...], dann halte ich`s für die allerhöchste Zeit, zur See zu gehen, und zwar sofort. Das ersetzt mir den Pistolenschuss.
Fotoblog: Wanderungen in Andalusien
Weiterlesen: Río Higuerón
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