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Sonntag, 3. Mai 2020

Einstimmung


mein vaterland ist die welt
meine religion ist das gute
meine familie ist die menschheit

Fermín Salvochea

Kleine Fluchten! Sicher, die Vorstellung ist abgegriffen, längst in die Jahre gekommen. Doch für Wanderungen und Fußreisen bildet sie noch immer einen geeigneten Fokus. Es gibt auch die großen Fluchten, die auf Fernwanderungen lange Zeit durch die Welt führen. Flucht, Eskapismus, ein übel beleumundetes Konzept. Hinter Vorurteilen verborgen, trägt er angeblich Realitätsflucht im Gepäck. Zugegeben, der Begriff ist mehrdeutig. Eine Flucht kann mehreren Funktionen dienen. Jemand flieht vor alltäglichen Konflikten, besonders ihren negativen Aspekten, und entzieht sich der Verantwortung. Oder er zieht sich eine Weile zurück, um sich zu sammeln und neue Energien zu mobilisieren. J.R.R. Tolkien fragt, wer es einem Gefangenen verübeln kann, wenn er von einer Welt jenseits von Kerkermauern träumt?

Bereits die kleinen Wanderungen führen für einen ausgedehnten Augenblick aus der Enge der Stadt in die Weite der Landschaft. Warum verlässt jemand das komfortable Nest, das er sich in der Stadt eingerichtet hat? Würde der Mensch nicht sehnen, träumen, wünschen, wohin würde er überhaupt kommen? Die Weite des Himmels senkt sich in die Brust des Wanderers, der in dieser Weite aufgeht. Die offene Landschaft, in der nur scheinbar alles durcheinander geht, nimmt den Wanderer in ihre Struktur auf. Er spürt sie im Gehen am eigenen Leib: den unebenen Weg; die Temperatur der Luft; die Wärme der Sonne auf der Haut, ihre brennende Hitze; das Wehen, Säuseln und Brausen des Windes; die Aromen des Bodens, der Pflanzen und der Tiere; die vielen Laute der Stille, ein kurzes Knacken, ein schnelles Rascheln oder Flattern, nicht identifizierbar, weil das Visuelle fehlt; die landwirtschaftlich verursachten Störungen der natürlichen Balance, die Wunden der Natur, deren Disharmonie, Geometrie, Hässlichkeit und Gestank mich immer wieder einmal im Vorübergehen streift. Immer aufs Neue und immer wieder anders: die Berührung von Sonne, Wind und Regen, Hitze, Kälte und Feuchtigkeit auf meiner Haut. Meine Empfindungen, wenn die Zeit in einem Augenblick der Entrückung stillsteht. Die vagen Töne und Klänge, die sich im Hintergrund der Stille schwach wahrnehmbar abheben. Das Orchester des Waldes, wenn nichts Fremdes stört, die Symphonie der Wellen in den Klippen am Meer, das leise, streichelnde Murmeln und Pfeifen des Windes oben am Berg. Die Enge der Brust in plötzlichem Erschrecken, wenn der Weg unerwartet im Weglosen endet. Wenn unheimliche Empfindungen den Wanderer bedrängen, die unmittelbar nach mentaler Bewältigung drängen. Der leichte Schauer, der fast angenehm den Rücken hinunter rieselt, das erregende Kribbeln im Bauch, wenn etwas nicht stimmt, und ich nicht erkennen kann, was es ist. Immer wieder verändert sich die Mentalität der Landschaft um mich herum: ihr Licht, ihre Farbigkeit und ihr Geruch; die wechselnden Geräusche meiner Schritte, das Zwitschern der Vögel und Summen der Insekten. Wer einmal stundenlang im Regen gewandert ist, durchnässt bis auf die Haut, tagelang unter brennender Sonne, bis das reine Blau des Himmels, die Brauntöne der Erde und das tiefe Grün des Landes alles ausfüllen. Immer wieder durstig, weil das Wasser niemals reicht, dem tätowiert die Natur ihre Muster auf die Haut. All dies verschwimmt zu einem vielsagenden, ganzheitlichen Eindruck, der sich in Empfinden und Gefühl ausdrückt. Unlöschbar! Wer das erlebt hat, der will immer wieder hinaus oder nie wieder. Alles, was im Dickicht der Städte meinen Sinnen entschwindet, geben mir meine Wanderungen zurück.

Samstag, 2. Mai 2020

Rio Higuerón


Einfach verschwinden. Losgehen.
Vom Weg abweichen. Im Weglosen gehen.
Souverän über Raum und Zeit verfügen.

Sich etwas zumuten
Ulrich Grober

Ich glaube, in Frigiliana hat alles angefangen. Mein neuer Wanderzyklus, die spannenden Wege, die mir das Verlaufen bescherte. Ich bin sicher, so oft wie in diesem Jahr habe ich mich noch nie verirrt. Mein Orientierungssinn besitzt etwas eigenartig Flüchtiges. Gegenüber meinen anderen Sinnen, auf die ich mich fast automatisch verlassen kann, gilt das nicht für ihn. Er narrt mich, spielt mir Streiche, gebärdet sich mitunter ungebührlich, spiegelt mir vor, dass er sich nicht auskennt, nichts wiedererkennt, was mich verunsichert. Ein Gefühl, das manchmal mulmig wird. Danach geht es eigentlich erst richtig los: Ich fange an, mich bewusst mit der Richtung auseinanderzusetzen, sie zu hinterfragen und anzuzweifeln. Ein anderes Mal bin ich mir völlig sicher, in die richtige Richtung zu gehen, denke nicht einmal daran, obwohl ich auch diesen Weg noch nie gegangen bin, noch nie in dieser Gegend war. Mein Orientierungssinn setzt sich aus verschiedenen Sinnen zusammen. Er vermittelt mir ein komplexes Empfinden für meine Umgebung: visuell, akustisch, olfaktorisch, haptisch, besonders wenn ich barfuß gehe. Für die Position und Richtung im Raum sorgt mein Gleichgewichtssinn, das Beschleunigungsorgan im Innenohr und die gesamte Muskulatur. Mir war lange nicht bewusst, dass mein Orientierungssinn im Gehirn verschiedene Regionen vernetzt. Im Hippocampus sind sogenannte Platzzellen immer dann aktiv, wenn ich mich an einem bestimmten Ort befinde. Im Gehirn entsteht dann eine mentale Landkarte der Umgebung, die vielfältig emotional besetzt ist.

Freitag, 1. Mai 2020

La Axarquía


So wenig wie möglich sitzen;
keinem Gedanken Glauben schenken,
der nicht im Freien geboren ist und bei
freier Bewegung, in dem nicht auch
die Muskeln ein Fest feiern.

Friedrich Nietzsche

Die Axarquía, die Östliche, wie die Mauren sie genannt haben, ist eine Mittelgebirgslandschaft mit größeren Hügeln und niedrigen Bergen im Hinterland der Costa del Sol, zwischen den Montes de Málaga im Westen, der Sierra de Alhama im Norden und der Sierra de Almijara im Osten. Ein sanft von Gebirgszügen umschlossenes Hügelland, ein ideales Gelände für meine Wanderungen. Ich liebe es in Windungen auf und ab zu gehen. Immer geradeaus, auf ebenen Grund, langweilt mich schnell. Ich mag die weiten Lanschaften nicht so sehr, in der mein Blick verloren geht. Das Klima der Axarquía ist subtropisch, warm und relativ trocken, und mir wohlgesonnen. Viele Ortsnamen sind maurisch. Die christliche Reconquista hat die Axarquía erst 1487 erobert, doch die schwer zugängliche Berglandschaft blieb bis ins 16. Jahrhundert eines der letzten Rückzugsgebiete der islamischen Bevölkerung. Der letzte Aufstand der Mauren gegen die intolerante christliche Verwaltung wurde 1569 in Frigiliana, am Rand der Axarquía gelegen, blutig niedergeschlagen. Seit den 1960er Jahren erzählen farbige Kacheln mit kurzen Texten an den Hauswänden die Geschichte dieser Rebellion. Die Mauren, die ehemaligen Bewohner der Axarquía, drängen sich noch anders ins Bewusstsein. Frigiliana, wie viele andere Ortschaften dieser Landschaft, haben die maurische Bauweise in die Moderne gerettet, und bis heute einen Hauch des Orients bewahrt. Doch die Siedlungsgeschichte ist alt. Die Mauren waren nur die Letzten, die dem Ort ihren Stempel aufgedrückt haben. Vor ihnen waren die Römer hier. Menschen aus dem Neolithikum haben Keramikscherben zurückgelassen.

Donnerstag, 30. April 2020

Sierra de Almijara


The road goes ever on and on
Down from the door where it began
But far ahead the road has gone
And I must follow if I can

John Ronald Reuel Tolkien

Ich weiß, dass ich nicht der Einzige bin, der die besten Gedanken beim Gehen hat, und dass unterwegs die Freiheit grenzenlos werden kann. Dann, wenn Alltag und Routine, Kreativität tötende Verpflichtungen und gegenseitige Erwartungen, die kleinlichen Zumutungen und Bedenklichkeiten, die Unsicherheiten und all das, was nicht wirklich in mein Leben gehört, zurückgelassen werden. Mit allem muss ich mich auseinandersetzen, damit die Welt um mich funktioniert. Doch ich weiß auch, dass die individuelle Lebenswelt immer wieder für eine Weile verschwinden und in der Bedeutungslosigkeit versinken muss. Bevor diese Freiheit gewonnen ist, muss man sie erwerben, muss man lernen, frei zu sein, muss man sich bemühen, herausfordern lassen und bewähren. Das zumindest hat die Freiheit mit dem Alltag gemeinsam, wenn auch das Ergebnis völlig verschieden ist. Eine Schnittstelle zwischen alltäglicher Lebenswelt und individueller Freiheit sind lange Wanderungen und Fußreisen; gelegentlich ermöglicht das auch ein Spaziergang, wenn er zum richtigen Moment passiert. Freiheit, das ist wichtig, lässt sich nur realisieren, wenn auch alle anderen frei sind. Es reicht nicht aus, die Regierungsform zu wechseln, die Geisteshaltung der Menschen muss sich ändern. Ein hoher Anspruch, ich weiß das. Ein Dilemma.

Mittwoch, 29. April 2020

Las Alpujarras


Das «panoramische Gefühl», mitten in einer Landschaft zu stehen.
Die Welt ringsum liegt mir zu Füßen. Ich bin ihr Mittelpunkt.
Ein Gefühl, so unverfügbar und so flüchtig wie ein Moment
des Glücks, kaum beschreibbar: das Gefühl, frei zu sein
.
Ulrich Grober

Ich bin erst eine Woche in Spanien, doch es fühlt sich nach Wochen an. Vielleicht liegt es daran, dass die Zeit auf dem Land langsamer verstreicht als in der Stadt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich frei bin, weil alle Zwänge zu Hause geblieben sind. Zeit spielt keine Rolle. Ich habe lange geübt, bis es soweit war, bis mein Zeitgefühl und mein Körpergefühl nicht mehr gegeneinander arbeiten. Es ist eine merkwürdige Erfahrung, festzustellen, was die Norm der Uhr uns täglich antut. Günter Eich hat das in seinem Hörspiel Das Jahr Lazertis sehr schön formuliert. Dort vertritt er die Meinung, dass Zeit die Farbe einer wilden Rose und das Schillern einer Schlangenhaut ist. Welch ein Privileg ist es doch, Pilger, Reisender oder gleich ein Vagabund zu sein. Zu Fuß gehen: Ein unvergleichliches Erlebnis. Wer sich die Bedeutung oder den Geschmack des Flanierens auf der Zunge zergehen lässt, der weiß, wovon ich rede.

Dienstag, 28. April 2020

Cabo de Gata


der kuss der freiheit
andere welten verspricht
der blick durchs fenster

Drei Regentage in Orgíva sind genug. Ich habe mich von der Enge des österlichen Treibens in Granada erholt. Als ich in Orgíva eintraf, ahnte ich nicht einmal, welche Erinnerungen der Ort ans Licht ziehen würde. In einem Zimmer, gerade einmal groß genug für ein Bett, in einem Städtchen ohne jede Spur touristischen Rummels. Ein paar Tage, ohne mich durch Scharen von Besuchern aus aller Welt zu schieben. Das habe ich gewollt.

Montag, 27. April 2020

Cala Higuera


Da draußen aber gibt es unerforschte Wunder –
Wunder, die darauf warten, daß der rechte Mann
alles aufs Spiel setzt, sie zu entdecken.

T. Coraghessan Boyle

Ich wollte nach Isleta del Moro gehen, aber zwanzig Kilometer sind mir heute zu weit. Die Wanderung von gestern sitzt noch in meinen Muskeln. Über Land nach Pozo las Fraillas zu gehen, reizt mich nicht. Ich will etwas mit Strand, etwas Kleines eher Müheloses, wenn es solche Wanderungen gibt. Ein Spaziergang vielleicht. Nachdem mir meine Wanderung zur Playa de Genovéses und auf den Morrón de los Genoveses gefallen hat, wähle ich aufs Geradewohl eine kleine Bucht nördlich von San José aus: die Cala Higuera. Ihr Name erinnert mich an den Fluss, durch den ich vor ein paar Wochen gewandert bin.

Sonntag, 26. April 2020

Museo del Bandolero


Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns,
daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens
, [...] Dauern
ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig
nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild
seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige.

Rainer Maria Rilke

Ronda ist eine besondere andalusische Stadt mit einer äußerst bemerkenswerten Brücke, El Puenta Nuevo, die den Ort in zwei Städte trennt: in ein altes, historisches Ronda der dekadenten Architektur, der verwinkelten Gassen und Plätze sowie in das merkantile, das neue, mit moderner Infrastruktur. Ein Ronda, in dem ich für einen Moment aus der Zeit gefallen bin, ein anderes, das in meine Zeit gehört. Ich kam vom Cabo de Gata mit dem Bus hierher, für eine Nacht, auf dem Weg in die Serranía de Ronda, um zu wandern, eine Berglandschaft, die zur Sierra de Grazalema und Sierra de las Nieves gehört, und die im Süden an den Naturpark Los Alcornocales grenzt. Die malerischen, fremd klingenden Namen faszinierten mich aufs Neue und lockten mich zurück in die andalusischen Berge, nordwestlich der Alpujarras. Doch Ronda hielt mich ein paar Tage lang gefangen.
Meine Zeit in Ronda war fast vorbei. Es bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Abfahrt nach Grazalema. Ich hatte die Wohnung verlassen, den Schlüssel in den Briefkasten geworfen und den Rucksack auf den Schultern. Ich ging die Straße hinab zur Stadtmauer und hinauf zur Brücke über die Tajo-Schlucht. Noch einen letzten Blick in die Tiefe, schwindelerregend und weit in die Landschaft, wollte ich mitnehmen. Abschied! Über die Brücke und hinein nach El Mercadillo, zur Estación de Autobuses in die Neustadt. Auch an diesem Morgen drängte ich mich zwischen die zahlreichen Besucher an die Brüstung der Sehenswürdigkeit, mir schmerzlich bewusst, dass die schönsten Orte Welt zu einem Massenerlebnis geworden sind. Das unbestimmte Gefühl, etwas vergessen zu haben, ließ mich zögern. Vielleicht schlich sich in diesem Augenblick etwas in meine Wahrnehmung, bewusst kaum zu fassen, dazu war die Berührung viel zu sanft. Ich dachte an das Museo del Bandolero, und bedauerte plötzlich, es ausgelassen zu haben.

Samstag, 25. April 2020

Arroyo de Cañuelo


Es wird einem selten das Schlimmste zugemutet,
aber es kommt doch vor. Und keine Lokalkenntnis,
keine Reiseerfahrung reichen aus, dich im Voraus
wissen zu lassen, wo es vorkommen wird und wo nicht.

Theodor Fontane

Wer in ein gewisses Alter gekommen ist, der weiß, dass er kein anderer sein kann als der, der er schon immer gewesen ist. Die Kunst des Lebens besteht darin, sein Potenzial so gut wie möglich zu entfalten, das Vorhandene zu verfeinern, zu vervielfältigen, zu variieren, zu optimieren, Möglichkeiten zu nutzen oder zu suchen, Erfahrungen zu machen. Das bedeutet persönliche Entwicklung: physisch, psychisch, ethisch. Das neutestamentliche Gleichnis von einem Kaufmann, der jedem seiner drei Söhne eine Münze namens Talent gab, wie herrlich doppeldeutig, gefiele mir besser, wenn er alle mit einem dieser besonderen Talente bedacht hätte. Nur seine drei Söhne. Unethisch für die christliche Lehre, doch ich will das Gleichnis nicht zu wörtlich nehmen. Eine Landkarte wäre gut, ein Passierschein für die Träume, mit der man im Gelände untertauchen kann, jedenfalls soweit das überhaupt möglich ist. Kleine Angst und große Angst. Die kleine Angst ist gut. Sie ist ein Freund, der sagt: Weitermachen!

Freitag, 24. April 2020

El Palomar de la Breña


Wenn Sie eine Stelle finden, wo Wälder und Dunst die Gipfel umhüllen
und so die Illusion von Tiefe hervorrufen, die jeder Reise Bedeutung verleiht
dann lüften Sie den Hut und gedenken Sie derer, die vor Ihnen
da waren und Ihnen den Weg gebahnt haben.

Wade Davies

Viele Menschen vernachlässigen die Erfahrungen, die sich nicht mit ihrer Selbstwahrnehmung decken. Wie anders wäre unsere Wahrnehmung der Realität, wenn wir die alltäglichen Erfahrungen verwerfen, die nicht mit unseren Träumen übereinstimmen?

Donnerstag, 23. April 2020

El Casco Antiguo


nach der wanderung
tauche ich meine füße
tief ins abendrot

Cádiz ist die älteste Stadt Europas, im äußersten Südwesten des europäischen Kontinents. Und noch immer ist sie die Westlichste, und zugleich die Südlichste. Von allen Seiten meergeküsst. Ein schmaler Streifen dem Atlantik abgetrotzte Erde verbindet die Stadt mit dem Land. Cádiz ist meine letzte Wanderung. Dann ist es vorbei. Die Zeit zerfließt, und Dalis weiche Uhren erscheinen plötzlich real. Ein weißes Kaninchen kreuzt meinen Weg und ein Siebenschläfer denkt über verändertes Bewusstsein nach: zu atmen, wenn ich schlafe, ist dasselbe wie zu behaupten, ich schlafe, wenn ich atme. Gleiches kann man auch vom Gehen sagen. Grace Slick, die Frontfrau von Jefferson Airplane, inspiriert diese Alice-Replik auf dem legendären Woodstock-Festival 1969 zu einer Hymne, die sie der Hippie-Gemeinschaft entgegenruft: when logic and proportion have fallen sloppy dead / remember what the dormouse said / feed your head, feed your head. Wenn ich will, kann ich die alltägliche Realität verwerfen, wenn sie nicht zu meinen Träumen passt.

Mittwoch, 22. April 2020

Ausklang


wanderlust! rentlessly craving
wanderlust peel off the layers
until you get to the core

[...]
rentlessly restless restless rentlessly
Björk, MoMa, 2015

Das Besondere an meinen Reiseerzählungen besteht darin, dass sie selbstreferenziell sind. Das ist auch nicht anders möglich, denn Wandern, richtig betrieben, wird zu einer sehr persönlichen Angelegenheit. Grundsätzlich gibt es nur zwei Arten zu wandern: allein oder in Gemeinschaft. Mit dem Herzen oder dem Verstand. Allein zu wandern ist beschaulich und meditativ, gemeinsam zu wandern sozial und kommunikativ. Beides gleichzeitig schwer möglich, es sei denn, man sondert sich ab. Doch dann bricht man besser gleich allein auf. Es gilt, eine Wahl zu treffen. Meine Erinnerungen, Notizen und theoretischen Randbemerkungen über das Gehen handeln von mir: von meinem Empfinden, meinen Gefühlen und meinen Gedanken. Es gelingt mir nicht, das Wandern von meiner psychischen Befindlichkeit zu trennen. Es geht auch nicht darum, jemandem irgendwelche Ratschläge zu geben, dafür zu sorgen, dass er ausgetretenen Wegen folgen kann. Mir ist es wichtig, anzuregen, eine ganz bestimmte Haltung und Sichtweise zu fördern, die in der Überzeugung gipfelt: Die Zeit zur Wiederentdeckung der Landschaft ist gekommen. Gehen ist die natürlichste Fortbewegung des Menschen. Gehen entspricht seiner eigentlichen Natur, denn zu gehen liegt dem Homo sapiens, der ein Homo viator ist, im Blut. Wir sind Bewegungswesen. Es liegt an der modernen Entfremdung des Menschen von der Natur, dass er das Gehen aufgegeben hat. Nun glaubt er, nicht mehr gehen zu müssen, stelle einen Fortschritt dar. Der zunehmende Niedergang des Gehens wirkt sich so katastrophal aus, wie die künstliche Trennung von Körper und Psyche oder die Entfremdung des Menschen von der Natur. Die Hegemonie der Kultur über die Natur, des Körpers über das leibliche Spüren, hat ihren Zenit erreicht und ist nicht länger zukunftsfähig. Diese Perspektive ist mehr als eine Idealvorstellung, die zu einem guten Leitmotiv taugt. Mir scheint es wichtig, darauf hinzuweisen, dass besonders absichtsloses Gehen, Flanieren oder Spazierengehen, eine einzigartige Wahrnehmung der Welt ermöglicht. Näher und intensiver als zu Fuß kommt uns die Umgebung, in der wir uns bewegen, nie. Zu Fuß spüren wir die Welt am eigenen Leib. In den vorausgegangenen Erzählungen war immer wieder davon die Rede.