Einfach verschwinden. Losgehen.
Vom Weg abweichen. Im Weglosen gehen.
Souverän über Raum und Zeit verfügen.
Sich etwas zumuten.
Ulrich Grober
Ich glaube, in Frigiliana hat alles angefangen. Mein
neuer Wanderzyklus, die spannenden Wege, die mir das Verlaufen bescherte. Ich
bin sicher, so oft wie in diesem Jahr habe ich mich noch nie verirrt. Mein
Orientierungssinn besitzt etwas eigenartig Flüchtiges. Gegenüber meinen anderen
Sinnen, auf die ich mich fast automatisch verlassen kann, gilt das nicht für
ihn. Er narrt mich, spielt mir Streiche, gebärdet sich mitunter ungebührlich,
spiegelt mir vor, dass er sich nicht auskennt, nichts wiedererkennt, was mich
verunsichert. Ein Gefühl, das manchmal mulmig wird. Danach geht es eigentlich
erst richtig los: Ich fange an, mich bewusst mit der Richtung
auseinanderzusetzen, sie zu hinterfragen und anzuzweifeln. Ein anderes Mal
bin ich mir völlig sicher, in die richtige Richtung zu gehen, denke nicht
einmal daran, obwohl ich auch diesen Weg noch nie gegangen bin, noch nie in
dieser Gegend war. Mein Orientierungssinn setzt sich aus verschiedenen Sinnen
zusammen. Er vermittelt mir ein komplexes Empfinden für meine Umgebung:
visuell, akustisch, olfaktorisch, haptisch, besonders wenn ich barfuß gehe. Für
die Position und Richtung im Raum sorgt mein Gleichgewichtssinn, das
Beschleunigungsorgan im Innenohr und die gesamte Muskulatur. Mir war lange
nicht bewusst, dass mein Orientierungssinn im Gehirn verschiedene Regionen
vernetzt. Im Hippocampus sind sogenannte Platzzellen immer dann aktiv, wenn ich
mich an einem bestimmten Ort befinde. Im Gehirn entsteht dann eine mentale
Landkarte der Umgebung, die vielfältig emotional besetzt ist.
Wir benutzen zwei Strategien, um uns in unserer Umgebung
zurechtzufinden: Die Routenstrategie memoriert die Umgebung und die Wege anhand
markanter Punkte. Die komplexere Überblicksstrategie wertet außerdem die
Bewegungsrichtung und den Zusammenhang der Landmarken aus. Die Karte, die im
ersten Fall entsteht, entspricht einer gezeichneten Landkarte. Gemeinsam mit
dieser räumlichen Karte einsteht eine zweite, eine psychische Landkarte. Robert
Mcfarlane spricht von einer Geschichtenkarte, die gleichzeitig die
äußere Landschaft sowie die psychische Reaktion auf Erlebnisse und Erfahrungen
in ihr abbildet. Von einer auf Daten reduzierten Karte unterscheidet sich seine
Geschichtenkarte, weil sie den Raum abhängig vom Sein erfasst.
Geschichtenkarten, schreibt er an einer Stelle, repräsentieren Orte so, wie
Individuen oder Kulturen sie wahrnehmen, die sich in ihnen bewegen. Anstatt
einen Ort zu beschreiben, der unendlich oft bereist werden kann, zeichnen sie
individuelle Reisen nach. Eine Geschichtenkarte rankt sich um das Erleben des
Reisenden. Die in ihr gesetzten Grenzen ergeben sich aus dem Gesichtskreis und
Erfahrungshorizont des Reisenden. Ereignis und Ort sind nicht klar voneinander
zu trennen, da sie in Wechselwirkung zu einander stehen. Sofort fällt auf, dass
der Orientierungssinn nicht eindimensional an ein Organ gebunden sein kann, da
er sozial formbar ist. Wir müssen lernen, uns zu orientieren. Von selbst geht
das nicht. Novalis spricht davon, die Natur zu spüren wie seinen eigenen
Körper. Dieser besondere sinnliche Eindruck, wird er ganzheitlich empfunden,
löst beim Wandern ein angenehmes Gefühl aus. Er verbindet mich leiblich mit der
Landschaft. Das affektive Betroffensein durch diese Situation gestaltet eine
sinnlich-psychische Landkarte, deren Information mir als Intuition verfügbar
wird. Ich nenne diese Empfindung das Gefühl für die richtige Richtung. Mir war
es schon immer zu mühsam, mit Karte und Kompass zu wandern. Es erinnert mich an
meinen Mathematikunterricht in der Schule, den ich von Herzen gehasst habe. Eine
Geschichtenkarte, wie die, von der Robert Mcfarlane spricht, ermöglicht es mir,
aus meinen vielen sinnlich-psychischen Karten, die immer wieder entstehen,
grundlegende Prinzipien der Orientierung zu gewinnen. Im Lauf der Zeit
perfektionieren sie mein Gefühl für die richtige Richtung, auf das ich mich aus
Erfahrung verlassen kann: meinen eigenen Orientierungssinn. Erfahren ist ein
interessantes Wort, suggeriert es doch fahren als eine Bewegung hinaus. In die
weite Welt fahren! Sagt man das nicht? Der Wanderer erfährt sich über die
Erlebnisse und Ereignisse, die ihm draußen widerfahren, und die seine Erfahrung
bilden; bilden im Sinne von lernen, formen und gestalten. Nur neue Wege
ermöglichen neue Erfahrungen und Perspektiven. Welcher Weg könnte neuer sein,
als der, mit dem man überhaupt nicht gerechnet hat. Der Weg, auf den man nicht
vorbereitet ist. In Frigiliana bin ich zu meiner ersten Andalusien-Wanderung
aufgebrochen, und in Frigiliana habe ich zum ersten Mal den Weg verloren, den
ich gehen wollte.
Vor vier Tagen bin ich in Málaga angekommen. Zurück
auf spanische Erde. Ich fühle ich mich gleich in dieser fremden Stadt zu Hause.
Die Welt ist in Ordnung. Málaga gefällt mir. Eine Großstadt, eine halbe Million
Menschen leben hier. Ich habe schon hässliche spanische Städte gesehen. Málaga
gehört nicht dazu. Akutes Reisefieber oder entspannt im Hier und Jetzt? Ich
wünsche mir einen vollkommenen Aufbruch, der ins reine Leben führt. La
pura vida!, sagt mir der spanische Mann, der neben mir am Tresen sitzt. Bevorzugt
gepaart mit ein wenig Nervenkitzel. Ich wundere mich, dass ich dabei an einen
Stierkampf denken muss.
Sonniges Málaga. Verregnetes Nerja. Wie üblich regnet
es in Andalusien nur bis zum frühen Nachmittag. Ich kenne das aus anderen
Jahren. Der Wind bläst heftig. Ein Wetter für Surfer. Doch durch die Stadt
flitzen nur E-Scooter wie gezündete Raketen. In Málaga flanieren die Touristen.
Gemächlich streifen sie umher. Von den Einheimischen, die schnell unterwegs
sind, unterscheiden sie sich durch ihren Gang, der etwas betont Lässiges
ausstrahlt. Sie stören mich nicht, denn sie verlieren sich in der Stadt. In
Nerja ist der Tourismus aufdringlich. Er ballt sich in einem kleinen Viertel
oberhalb des Strands zusammen. Ein palmengesäumter, gefliester Boulevard; die
Luxusetablissements der Reichen mit unverbautem Blick auf ein windbewegtes
Meer. Schäumend und klatschend. Vor der Tür stehen diejenigen mit großen Augen,
die glauben, durch pure Anwesenheit zu partizipieren. Wie eng doch Neugier und
Sehnsucht beisammen liegen. Ein Halbrund, das ins Meer hinausgreift. Ein
internationaler Catwalk der Eitelkeiten: der Balcón de Europa. Ein
paar Touristen auf der Plattform stemmen sich gegen vorwitzige Windböen, die an
ihren Haaren zerren. Die wenigen, schmalen Gassen sind von weißgekalkten
Häusern gesäumt. Sie erinnern schon lange nicht mehr an das einstige
Fischerdorf. An das vergangene Nerja!
Es herrscht Hochbetrieb. Die Masse schiebt sich an Bars,
Restaurants und Souvernirshops vorüber. Das unnötige Nerja! Der Strand ist fast
leer. Nur wenige Spaziergänger wissen noch, was Natur für den Menschen
bedeutet. Sie ist ein Teil des Ganzen, das sie nicht mehr verstehen, und ohne das
nicht leben können. Die Wenigen sind gekommen, um zu sehen, wie die Sonne im
Meer versinkt. An diesem Abend unspektakulär. Einst ein heiliges Ereignis,
tritt die Sonne ihre Nachtfahrt durch die Unterwelt bescheiden an. Bannend für
den, der sich einen Sinn für naturräumliche Atmosphären bewahrt hat. Ich habe
Sonnenuntergänge gesehen, die mir ein religiöses Gefühl der Ehrfurcht gaben.
Heute Abend krönt die mausgraue Wolkenbank am Horizont nur ein rötlicher,
blasslila Streifen, in dem sich das Staunen der Zuschauer verliert.
Trotzdem ist auch Nerja mein Andalusien; wenigstens noch am
Rand. Es gibt immer etwas, an dem sich der Zahn der Zeit die Zähne ausbeißt.
Etwas Archaisches, etwas Faszinierendes, etwas Geheimnisvolles, gerade noch
Spürbares, dass sich den Orten und der Landschaft eingeschrieben hat. Etwas
Konservatives, Konserviertes, das als Hauch in ein paar Nischen verharrt. Etwas
Flüsterndes, das dem Vorübergehenden Geschichten wie ein lange erwartetes
Versprechen ins Ohr bläst. Dort, wo die echten Leute sind, trinke ich ein
frisch gezapftes Crux Campo, eine Caña nur. Am Tresen sitzen
Männer, wie in einem türkischen Kaffeehaus, nur mit einem Glas oder einer
Flasche Alkoholischem in der Hand. Der eine oder andere isst an einem der
wenigen Tische. Touristen sehe ich nicht, dazu ist die Bar zu einfach, zu
fremd, und auch nicht ordentlich genug. Nichts hat einen Wiedererkennungswert
für den flüchtigen Besucher aus dem Ausland. Das verunsichert. Nach einem
kurzen, prüfenden Blick, der an nichts haften bleibt, geht er vorüber. In der
Bar geht es so laut zu, sodass mir bald die Ohren klingeln. Ein TV-Gerät
sprudelt seine Botschaften durch den Äther, kann die Gespräche, die quer durch
den Raum wirbeln, aber nicht übertönen. Die Distanz zum Gesprächspartner wird
durch die ansteigende Lautstärke reguliert. Gleichgültig wer wo sitzt. Jeder
redet mit, jeder hat etwas beizutragen. Jeder will es besser wissen als der
andere. Wenn es Totschlagargumente gibt, gibt es auch Taubmachgeschrei.
Spanisch eben. Authentisch!
An den Wänden der Bar, deren Namen ich längst vergessen
habe, hängen verblichene Schwarzweißfotografien. Fischer, die stolz ihren Fang
präsentieren, ihre Boote, eine Kaimauer nur, die das Land vom Meer trennt. Kein
Balkon mit Rundumblick auf die Wasserwüste. Es war einmal: das Fischerdorf
Nerja! Die Männer, die mit mir am Tresen sitzen, erzählen von Arbeitslosigkeit,
Saisonarbeit und der Schwierigkeit genug zu verdienen. Keinem von ihnen sichert
ein unbefristeter Arbeitsvertrag seine Existenz. Die Söhne der Fischer
profitieren nicht vom Tourismus. Sie erzählen von den alten Zeiten, in denen
ein Fischer noch ein Mann war, der sich der Natur aussetzte, um seine Familie
zu ernähren. Der alte Mann und das Meer. Es klingt nach Hemingway. Eine
Ideologie der Zugehörigkeit. Ein System sozialen Prestigeerwerbs, dass es nicht
mehr gibt, und sich der Mann nicht mehr als Mann profilieren kann.
Am Meer sind die Bars und Restaurants mit trinkenden und
essenden Touristen überfüllt. Über welche Themen reden sie? Was macht sie aus?
Die vielen älteren Paare fallen auf. Gemeinsam alt gewordene Ehepaare,
wohlhabende Rentner vielleicht, die halbherzig versuchen, der Tristesse ihres
Alltags zu entrinnen. Sie suchen in der bunt gemischten Schar Befriedigung und
Zugehörigkeit. Ist das ihr wohlverdienter Lebensabend? Mir fehlt der Mut, sie
das zu fragen. Unter ihnen Familien mit kleinen Kindern, viele noch im
Kinderwagen. Einzelreisende muss ich sie woanders suchen. Alle Klischees, die
Nordeuropäer in Spanien erwarten, sind vertreten. Mich verlangt es nach meinen
eigenen Klischees. Da bin ich konsequent individualistisch, was mich vom
Touristen unterscheidet und zum Reisenden macht.
Das moderne Zeitalter des Ferntourismus mit seinem
Phänomen des Massentourismus, der Urlauber an jedes Ziel und in jede fremde
Kultur weltweit befördert, sorgt gleichzeitig dafür, dass der Tourist so wenig
Kontakt wie möglich mit der Fremde bekommt. Das war schon einmal anders.
Heutzutage treten Touristen in Scharen auf. Sie stellen Vergleiche zwischen der
Heimat und der Fremde her. Doch finden sie oft nur ihre eigenen Erwartungen,
und fühlen sich in der Fremde wie zu Hause. Der Tourist bewegt sich mit
voyeuristischem Blick gedankenlos in der fremden Kultur. Während der Tourist
jemand ist, der gewöhnlich nach einigen Wochen nach Hause drängt, gehört der
Reisende keinem Ort allein. Der Gral des Reisenden ist die
Authentizität, nennt es Andrew Solomon. Es spricht nichts dagegen, ihn zu
suchen. Ihn zu finden, darf man allerdings nicht erwarten: Es ist
leicht, schlicht zu leben, ohne authentisch zu sein, fährt er fort, doch
schier unmöglich, authentisch zu sein, wenn man sich vor dem Einfachen fürchtet.
Den Reisenden zieht es an Orte, die er noch nicht kennt, die er neu erleben
kann. Er hinterfragt sich in der Bewegung. Seine Aufgabe besteht darin, sich
kritisch mit sich selbst und seinen Wahrnehmungen auseinanderzusetzen. Das
wusste schon Karl May, der in Durch die Wüste erklärt, man
könne die alte Welt von Hammerfest nach Capstadt von England bis nach Japan durchreisen,
ohne nur eine Spur von dem zu erleben, was man Abenteuer nennt. Er fordert
den Reisenden auf, keinen Dolmetscher und keinen Reiseführer auf eine Reise
mitzunehmen, und ist davon überzeugt, dass es auf die Persönlichkeit des
Reisenden und die Art und Weise der Reise ankommt. Eine Reise per
Entreprise oder mit Rundreisebillet wird sehr zahm sein, selbst wenn sie nach
Celebes oder zu den Feuerländern gehen sollte. Paul Theroux, ein moderner
Reisender, vermutet deshalb auch: Touristen wissen nicht, wo sie gewesen
sind, Reisende wissen nicht, wohin sie fahren. Nostalgie, ein
Begriff der sich aus nosos, Rückkehr und Heimkehr sowie algos,
Schmerz zusammensetzt, ist, nicht länger ein Eskapismus, sondern die
Gelegenheit, ein Gefühl wieder zu entdecken, das zugleich Heimat und Sehnsucht
ist. Nostalgie ist das Heimweh an den Ort zurückzukehren, an den man
glaubt zu gehören. An den Ort, nach dem wir uns alle sehnen. Niemand verkörpert
diesen Archetypus glaubwürdiger als der Irrfahrer Odysseus. In diesem Gefühl verbindet
sich der süße Schmerz unerfüllter Sehnsucht mit der stillen Freude über die
Ankunft. Vergewisserung von Wurzeln im Auge des Orkans der Entfremdung.
Landschaft ist ein Zugang. Begegnung auch. Fußreisen, tagelange Wanderungen
durch fremde Kulturen, wie durch fremde Welten, führen in die Wahrnehmung der
Welt ein, vermitteln eine Erfahrung, die dem Menschen die Initiative überlässt.
Ich kann immer besser verstehen, warum Claude Lévi-Strauss sich gewünscht hat,
im Zeitalter der wahren Reisenden gelebt zu haben. Jetzt bin ich erst einmal
Tourist, was auch in Ordnung ist.
Es fühlt sich noch seltsam an, wieder in Spanien zu
sein, und nicht auf Pilgerwegen zu wandern. Es fühlt sich an, wie auf einer
meiner ersten Reisen durch Südeuropa, in den frühen 1970er Jahren. Da wusste
ich auch nie genau, wohin die Reise geht. Es ist schwierig, zielorientiert zu
trampen. Nur ein ungefähres Ziel. Reisen von der Hand in den Mund. Gestern war
ich in Málaga, heute bin ich in Nerja. Morgen schon wieder anderswo. Ein
Ruhetag fühlt sich an, wie ein verlorener Tag: einpacken, den Ort wechseln, wieder
auspacken. Ich muss mich bescheiden: meinen Füßen und Knien sind Pausen
willkommen. Drei Tage Málaga, drei Tage kilometerlanges Asphalttreten mit
Barfußschuhen. Morgen, morgen gehe ich in die Berge. Morgen mache ich meine
erste Wanderung; von Frigiliana zur Cueva de Nerja.
Gestern bin ich nach Nerja umgezogen. Heute ist mein
erster richtiger Wandertag. Neun Monate habe ich auf diesen Augenblick
gewartet. Ich bin angespannt und aufgeregt, als ich in den Bus steige, um nach
Frigiliana zu fahren. Es ist früh am Morgen, der erste Bus. Er ist bis auf den
letzten Platz mit Frigiliana-Fans besetzt, die wie ich in Nerja wohnen. Nur bin
ich kein Fan des Dorfes, sondern begierig auf meine erste Rundwanderung. Der
Bus hält unterhalb einer kleinen Plaza vor einem dekorativen Kiosk:
Informationen und Puppentheater. Gegenüber El Ingenio, einst der
Palast eines Adeligen aus dem 16. Jahrhundert. Seit dem 17. Jahrhundert ist das
Gebäude eine Melasse-Fabrik, die Sirup aus Zuckerrohrsaft herstellt. Eine
kopfsteingepflasterte Gasse führt in den historischen Kern von Frigiliana, ins
Herz des Touristen Begehr. Automatisch gehe ich in die falsche Richtung, ganz
versunken in den exotischen Anblick eines Pueblo Blanco, eines der berühmten
Weißen Dörfer Andalusiens. Ganz ohne nachzudenken. Ob Herdentrieb oder
Nervosität, ich schwimme mit dem Strom, und schließe mich gedankenlos all den
anderen an, die ins Dorf hinaufströmen. Mit Rucksack und Wanderstöcken zwischen
vorwiegend älteren und übergewichtigen Besuchern fühle ich mich deplatziert.
Plötzlich habe ich es eilig, will die Schar schnell loswerden. Während sie sich
noch den Berg hinaufmühen, schwinge ich meine Stöcke und setze mich forschen
Schritts an die Spitze. Mir ist danach, ich muss einen Unterschied
demonstrieren. Dann sehe ich, dass mir eine andere Schar von oben
entgegenkommt, und erkenne, das es unmöglich ist, zu entkommen. Was mir
begegnet, ist die immer wieder notwendige Übung in Bescheidenheit.
Es dauert lange, bis ich mich durchgefragt habe, und
den richtigen Weg hinab ins Tal des Río Higuerón finde, den Start für meine
Rundwanderung. Unten angekommen, ereilt mich erneut der Herdentrieb. Eine
Brücke führt über einen Fluss, der kaum Wasser führt. Der Grund ist kieselig,
Steine in allen Größen. Felsbrocken liegen verstreut im Fluss. Die Ufer sind
dicht bewachsen. Der Wasserstand reicht noch gerade aus für eine grüne Idylle.
Etwas entfernt staken zwei Wanderer durch das Flussbett, setzen langsam Fuß vor
Fuß. Ich sehe sie eben noch um eine Biegung verschwinden. Wieder denke ich
nicht, ich reagiere. Im Bann der Landschaft. Mir stellt sich keine Frage, ich
steige die Böschung hinunter, und folge ihren Spuren. Ich bin begeistert von
der Vorstellung, durch ein Flussbett zu wandern. Ein ungewöhnlicher Auftakt.
Der Río Higuerón führt Niedrigwasser, weniger ist nicht mehr möglich, dann ist
er nicht einmal mehr ein Bach. Aber dafür ist er zu Fuß zu nehmen. Große
Strecken liegen trocken. Kiesbänke, zwischen denen der letzte Rest des Flusses
nur noch ein Rinnsal ist. Zwischendurch gibt es Passagen, wo er etwas kräftiger
fließt, wo Felsbrocken den Fluss blockieren und nur Trittsteine ein
Weiterkommen ermöglichen. Hin und wieder haben herabgestürzte Felsen den
Higuerón zu kleinen Teichen aufgestaut, sodass ich auf das Ufer klettern muss,
um mich zwischen Sträuchern zur nächsten freien Stelle durchzuzwängen. Die
Wanderer, denen ich gefolgt bin, habe ich längst überholt. Zwei übergewichtige
Amerikanerinnen, die sich stolpernd durch das Flussbett kämpfen. Die völlig
falschen Schuhe, denke ich noch, dann bin ich vorbei. Für einen Small Talk sind
die beiden, den Blick konzentriert auf den unebenen Boden geheftet, nicht
aufgelegt. Gesehen habe ich sie nicht mehr wieder. Es ist entspannend, und
äußerst angenehm, im Schatten überhängender Äste und eng an den Fluss rückender
Felswände zu wandern. Der grünlich schimmernde Dämmer, das hin und wieder durch
die Blätter auf den Steinen tanzende Sonnenlicht. Bei jedem Schritt kullert
Kies zur Seite. Ist er nicht schnell genug, mir auszuweichen, knirscht er
schrill unter meinem harten Tritt. Das leise Gurgeln und Plätschern des
Wassers, wenn es über Stufen fließt. Farbe, Licht und Klang erschaffen
gemeinsam eine verzauberte Atmosphäre, die mein aufgeregtes Herz zur Ruhe
bringen, und meine Gedanken in den Schlaf wiegen. Die Betriebsamkeit der
Menschen in den Städten rückt an diesem Fluss in weite Ferne. Dann übernehmen
die Felsen die Landschaft, stumme Wegbegleiter des Higuerón, klobig,
übermannsgroß, irgendwann einmal herabgefallene Stücke der senkrecht
aufragenden Felswand. Das Wasser hat sie in unfassbar langer Zeit
rundgeschliffen, eine vegetationslose Zone. Sie versperren dem Higuerón den
Weg, zwingen ihm eine Richtung auf. Aber er hat sich längst ein schmales Tor
durch das Gestein gefräst. Auf der anderen Seite stürzt er plötzlich, befreit
jauchzend, als Wasserfall kraftvoll und lärmend, über zwei Meter in die Tiefe.
Mir genügen ein paar Stufen im Stein, um auf die andere Seite zu gelangen.
Fische, Amphibien oder Reptilien suche ich vergebens. Ich hoffe nur, es liegt
daran, dass ich lärmend durch das Wasser platsche.
Am Ende der Schlucht verliert sich der Fluss in einer
flachen Senke, in der er in besseren Zeiten Kiesbänke aufgehäuft hat. Jetzt ist
er zwischen den steinigen Wellen kaum noch auszumachen, aber ich sehe ein Bild,
vor mir; welche Macht der Río Higuerón eigentlich ist. Ich bin mir nicht mehr
sicher, wo sich sein Bett befindet, denn im Kies ist es trocken, sein Rinnsal
muss woanders sein. Ausladende Agaven. Gelbe Blüten zwischen den grünen
Blättern geduckter Sträucher vermitteln eine Ahnung von Feuchtigkeit. Nur ein
paar Dutzend Schritte entfernt, hinter mir, sehe ich, strahlend weiß und weit
entrückt, Frigiliana hoch oben auf dem Bergkamm in der Sonne liegen, weiß in grün
gebettet. Eine traumhafte Silhouette, ein arabisches Märchen. Tausend und eine
Nacht scheint plötzlich nah. Vom Grund der Schlucht aus unerreichbar. Zum
ersten Mal kommen mir Zweifel, der Ort muss ganz woanders liegen, und mein Weg
führt nicht heraus aus dem Fluss. Dass das Flussbett kein Wanderweg ist, wird
mir erst jetzt bewusst. Es ist die Begeisterung, die Illusionen produziert, und
mich zu diesem Weg verleitet hat. Euphorie und Endorphine sind das Geschenk des
Wanderns, aber auch seine Gefährdung. Auf einer Schotterpiste, die von oben
herab im Flussbett endet, geht ein Paar, betagt, wie Wanderer meistens sind.
Sie steigen in den Kies und folgen einem mir unsichtbaren Weg. Den anderen Weg,
der links zu einem Haus auf eine Anhöhe führt, verwerfe ich. Vermutlich endet
er dort, denn ich stehe mitten in einer Furt. Der Kies knirscht noch eine Weile
unter meinen Sohlen, dann verschwindet die Rambla, das trockene Bett des Río
Higuerón, hinter einer dicht bewachsenen Hecke. Vom Wasser ist längst nichts
mehr zu sehen oder zu hören. Ich wechsele auf eine staubige Piste, an den
Rändern gelegentlich ein niedriger Strauch. Nur selten ein Baum, der mir etwas
Schatten spendet. Ein blauer, wolkenloser Himmel und eine blendende Sonne haben
den dämmerigen Schatten des Flussbetts abgelöst. Mittlerweile weiß ich, dass
das kein Rundwanderung ist, und die Cueva de Nerja nicht mehr
mein Ziel. Schon längst müsste der Weg bergauf führen. Stattdessen taucht vor
mir die Skyline einer größeren Ortschaft auf. Eine Brücke über den Río Chillar,
und ich bin zurück in Nerja.
Ich bin nicht enttäuscht. Schließlich war es eine
Rundwanderung, wenn auch eine andere. Von Nerja zurück nach Nerja. Nicht oft
bietet sich mir die Gelegenheit, unerwartet ein paar Kilometer durch einen
Fluss zu wandern, auf fremden Pfaden, zu einem unerwarteten Ziel.
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