Samstag, 2. Mai 2020

Rio Higuerón


Einfach verschwinden. Losgehen.
Vom Weg abweichen. Im Weglosen gehen.
Souverän über Raum und Zeit verfügen.
Sich etwas zumuten
.
Ulrich Grober

Ich glaube, in Frigiliana hat alles angefangen. Mein neuer Wanderzyklus, die spannenden Wege, die mir das Verlaufen bescherte. Ich bin sicher, so oft wie in diesem Jahr habe ich mich noch nie verirrt. Mein Orientierungssinn besitzt etwas eigenartig Flüchtiges. Gegenüber meinen anderen Sinnen, auf die ich mich fast automatisch verlassen kann, gilt das nicht für ihn. Er narrt mich, spielt mir Streiche, gebärdet sich mitunter ungebührlich, spiegelt mir vor, dass er sich nicht auskennt, nichts wiedererkennt, was mich verunsichert. Ein Gefühl, das manchmal mulmig wird. Danach geht es eigentlich erst richtig los: Ich fange an, mich bewusst mit der Richtung auseinanderzusetzen, sie zu hinterfragen und anzuzweifeln. Ein anderes Mal bin ich mir völlig sicher, in die richtige Richtung zu gehen, denke nicht einmal daran, obwohl ich auch diesen Weg noch nie gegangen bin, noch nie in dieser Gegend war. Mein Orientierungssinn setzt sich aus verschiedenen Sinnen zusammen. Er vermittelt mir ein komplexes Empfinden für meine Umgebung: visuell, akustisch, olfaktorisch, haptisch, besonders wenn ich barfuß gehe. Für die Position und Richtung im Raum sorgt mein Gleichgewichtssinn, das Beschleunigungsorgan im Innenohr und die gesamte Muskulatur. Mir war lange nicht bewusst, dass mein Orientierungssinn im Gehirn verschiedene Regionen vernetzt. Im Hippocampus sind sogenannte Platzzellen immer dann aktiv, wenn ich mich an einem bestimmten Ort befinde. Im Gehirn entsteht dann eine mentale Landkarte der Umgebung, die vielfältig emotional besetzt ist.
Wir benutzen zwei Strategien, um uns in unserer Umgebung zurechtzufinden: Die Routenstrategie memoriert die Umgebung und die Wege anhand markanter Punkte. Die komplexere Überblicksstrategie wertet außerdem die Bewegungsrichtung und den Zusammenhang der Landmarken aus. Die Karte, die im ersten Fall entsteht, entspricht einer gezeichneten Landkarte. Gemeinsam mit dieser räumlichen Karte einsteht eine zweite, eine psychische Landkarte. Robert Mcfarlane spricht von einer Geschichtenkarte, die gleichzeitig die äußere Landschaft sowie die psychische Reaktion auf Erlebnisse und Erfahrungen in ihr abbildet. Von einer auf Daten reduzierten Karte unterscheidet sich seine Geschichtenkarte, weil sie den Raum abhängig vom Sein erfasst. Geschichtenkarten, schreibt er an einer Stelle, repräsentieren Orte so, wie Individuen oder Kulturen sie wahrnehmen, die sich in ihnen bewegen. Anstatt einen Ort zu beschreiben, der unendlich oft bereist werden kann, zeichnen sie individuelle Reisen nach. Eine Geschichtenkarte rankt sich um das Erleben des Reisenden. Die in ihr gesetzten Grenzen ergeben sich aus dem Gesichtskreis und Erfahrungshorizont des Reisenden. Ereignis und Ort sind nicht klar voneinander zu trennen, da sie in Wechselwirkung zu einander stehen. Sofort fällt auf, dass der Orientierungssinn nicht eindimensional an ein Organ gebunden sein kann, da er sozial formbar ist. Wir müssen lernen, uns zu orientieren. Von selbst geht das nicht. Novalis spricht davon, die Natur zu spüren wie seinen eigenen Körper. Dieser besondere sinnliche Eindruck, wird er ganzheitlich empfunden, löst beim Wandern ein angenehmes Gefühl aus. Er verbindet mich leiblich mit der Landschaft. Das affektive Betroffensein durch diese Situation gestaltet eine sinnlich-psychische Landkarte, deren Information mir als Intuition verfügbar wird. Ich nenne diese Empfindung das Gefühl für die richtige Richtung. Mir war es schon immer zu mühsam, mit Karte und Kompass zu wandern. Es erinnert mich an meinen Mathematikunterricht in der Schule, den ich von Herzen gehasst habe. Eine Geschichtenkarte, wie die, von der Robert Mcfarlane spricht, ermöglicht es mir, aus meinen vielen sinnlich-psychischen Karten, die immer wieder entstehen, grundlegende Prinzipien der Orientierung zu gewinnen. Im Lauf der Zeit perfektionieren sie mein Gefühl für die richtige Richtung, auf das ich mich aus Erfahrung verlassen kann: meinen eigenen Orientierungssinn. Erfahren ist ein interessantes Wort, suggeriert es doch fahren als eine Bewegung hinaus. In die weite Welt fahren! Sagt man das nicht? Der Wanderer erfährt sich über die Erlebnisse und Ereignisse, die ihm draußen widerfahren, und die seine Erfahrung bilden; bilden im Sinne von lernen, formen und gestalten. Nur neue Wege ermöglichen neue Erfahrungen und Perspektiven. Welcher Weg könnte neuer sein, als der, mit dem man überhaupt nicht gerechnet hat. Der Weg, auf den man nicht vorbereitet ist. In Frigiliana bin ich zu meiner ersten Andalusien-Wanderung aufgebrochen, und in Frigiliana habe ich zum ersten Mal den Weg verloren, den ich gehen wollte.


Vor vier Tagen bin ich in Málaga angekommen. Zurück auf spanische Erde. Ich fühle ich mich gleich in dieser fremden Stadt zu Hause. Die Welt ist in Ordnung. Málaga gefällt mir. Eine Großstadt, eine halbe Million Menschen leben hier. Ich habe schon hässliche spanische Städte gesehen. Málaga gehört nicht dazu. Akutes Reisefieber oder entspannt im Hier und Jetzt? Ich wünsche mir einen vollkommenen Aufbruch, der ins reine Leben führt. La pura vida!, sagt mir der spanische Mann, der neben mir am Tresen sitzt. Bevorzugt gepaart mit ein wenig Nervenkitzel. Ich wundere mich, dass ich dabei an einen Stierkampf denken muss.


Sonniges Málaga. Verregnetes Nerja. Wie üblich regnet es in Andalusien nur bis zum frühen Nachmittag. Ich kenne das aus anderen Jahren. Der Wind bläst heftig. Ein Wetter für Surfer. Doch durch die Stadt flitzen nur E-Scooter wie gezündete Raketen. In Málaga flanieren die Touristen. Gemächlich streifen sie umher. Von den Einheimischen, die schnell unterwegs sind, unterscheiden sie sich durch ihren Gang, der etwas betont Lässiges ausstrahlt. Sie stören mich nicht, denn sie verlieren sich in der Stadt. In Nerja ist der Tourismus aufdringlich. Er ballt sich in einem kleinen Viertel oberhalb des Strands zusammen. Ein palmengesäumter, gefliester Boulevard; die Luxusetablissements der Reichen mit unverbautem Blick auf ein windbewegtes Meer. Schäumend und klatschend. Vor der Tür stehen diejenigen mit großen Augen, die glauben, durch pure Anwesenheit zu partizipieren. Wie eng doch Neugier und Sehnsucht beisammen liegen. Ein Halbrund, das ins Meer hinausgreift. Ein internationaler Catwalk der Eitelkeiten: der Balcón de Europa. Ein paar Touristen auf der Plattform stemmen sich gegen vorwitzige Windböen, die an ihren Haaren zerren. Die wenigen, schmalen Gassen sind von weißgekalkten Häusern gesäumt. Sie erinnern schon lange nicht mehr an das einstige Fischerdorf. An das vergangene Nerja!
Es herrscht Hochbetrieb. Die Masse schiebt sich an Bars, Restaurants und Souvernirshops vorüber. Das unnötige Nerja! Der Strand ist fast leer. Nur wenige Spaziergänger wissen noch, was Natur für den Menschen bedeutet. Sie ist ein Teil des Ganzen, das sie nicht mehr verstehen, und ohne das nicht leben können. Die Wenigen sind gekommen, um zu sehen, wie die Sonne im Meer versinkt. An diesem Abend unspektakulär. Einst ein heiliges Ereignis, tritt die Sonne ihre Nachtfahrt durch die Unterwelt bescheiden an. Bannend für den, der sich einen Sinn für naturräumliche Atmosphären bewahrt hat. Ich habe Sonnenuntergänge gesehen, die mir ein religiöses Gefühl der Ehrfurcht gaben. Heute Abend krönt die mausgraue Wolkenbank am Horizont nur ein rötlicher, blasslila Streifen, in dem sich das Staunen der Zuschauer verliert.
Trotzdem ist auch Nerja mein Andalusien; wenigstens noch am Rand. Es gibt immer etwas, an dem sich der Zahn der Zeit die Zähne ausbeißt. Etwas Archaisches, etwas Faszinierendes, etwas Geheimnisvolles, gerade noch Spürbares, dass sich den Orten und der Landschaft eingeschrieben hat. Etwas Konservatives, Konserviertes, das als Hauch in ein paar Nischen verharrt. Etwas Flüsterndes, das dem Vorübergehenden Geschichten wie ein lange erwartetes Versprechen ins Ohr bläst. Dort, wo die echten Leute sind, trinke ich ein frisch gezapftes Crux Campo, eine Caña nur. Am Tresen sitzen Männer, wie in einem türkischen Kaffeehaus, nur mit einem Glas oder einer Flasche Alkoholischem in der Hand. Der eine oder andere isst an einem der wenigen Tische. Touristen sehe ich nicht, dazu ist die Bar zu einfach, zu fremd, und auch nicht ordentlich genug. Nichts hat einen Wiedererkennungswert für den flüchtigen Besucher aus dem Ausland. Das verunsichert. Nach einem kurzen, prüfenden Blick, der an nichts haften bleibt, geht er vorüber. In der Bar geht es so laut zu, sodass mir bald die Ohren klingeln. Ein TV-Gerät sprudelt seine Botschaften durch den Äther, kann die Gespräche, die quer durch den Raum wirbeln, aber nicht übertönen. Die Distanz zum Gesprächspartner wird durch die ansteigende Lautstärke reguliert. Gleichgültig wer wo sitzt. Jeder redet mit, jeder hat etwas beizutragen. Jeder will es besser wissen als der andere. Wenn es Totschlagargumente gibt, gibt es auch Taubmachgeschrei. Spanisch eben. Authentisch!
An den Wänden der Bar, deren Namen ich längst vergessen habe, hängen verblichene Schwarzweißfotografien. Fischer, die stolz ihren Fang präsentieren, ihre Boote, eine Kaimauer nur, die das Land vom Meer trennt. Kein Balkon mit Rundumblick auf die Wasserwüste. Es war einmal: das Fischerdorf Nerja! Die Männer, die mit mir am Tresen sitzen, erzählen von Arbeitslosigkeit, Saisonarbeit und der Schwierigkeit genug zu verdienen. Keinem von ihnen sichert ein unbefristeter Arbeitsvertrag seine Existenz. Die Söhne der Fischer profitieren nicht vom Tourismus. Sie erzählen von den alten Zeiten, in denen ein Fischer noch ein Mann war, der sich der Natur aussetzte, um seine Familie zu ernähren. Der alte Mann und das Meer. Es klingt nach Hemingway. Eine Ideologie der Zugehörigkeit. Ein System sozialen Prestigeerwerbs, dass es nicht mehr gibt, und sich der Mann nicht mehr als Mann profilieren kann.
Am Meer sind die Bars und Restaurants mit trinkenden und essenden Touristen überfüllt. Über welche Themen reden sie? Was macht sie aus? Die vielen älteren Paare fallen auf. Gemeinsam alt gewordene Ehepaare, wohlhabende Rentner vielleicht, die halbherzig versuchen, der Tristesse ihres Alltags zu entrinnen. Sie suchen in der bunt gemischten Schar Befriedigung und Zugehörigkeit. Ist das ihr wohlverdienter Lebensabend? Mir fehlt der Mut, sie das zu fragen. Unter ihnen Familien mit kleinen Kindern, viele noch im Kinderwagen. Einzelreisende muss ich sie woanders suchen. Alle Klischees, die Nordeuropäer in Spanien erwarten, sind vertreten. Mich verlangt es nach meinen eigenen Klischees. Da bin ich konsequent individualistisch, was mich vom Touristen unterscheidet und zum Reisenden macht.


Das moderne Zeitalter des Ferntourismus mit seinem Phänomen des Massentourismus, der Urlauber an jedes Ziel und in jede fremde Kultur weltweit befördert, sorgt gleichzeitig dafür, dass der Tourist so wenig Kontakt wie möglich mit der Fremde bekommt. Das war schon einmal anders. Heutzutage treten Touristen in Scharen auf. Sie stellen Vergleiche zwischen der Heimat und der Fremde her. Doch finden sie oft nur ihre eigenen Erwartungen, und fühlen sich in der Fremde wie zu Hause. Der Tourist bewegt sich mit voyeuristischem Blick gedankenlos in der fremden Kultur. Während der Tourist jemand ist, der gewöhnlich nach einigen Wochen nach Hause drängt, gehört der Reisende keinem Ort allein. Der Gral des Reisenden ist die Authentizität, nennt es Andrew Solomon. Es spricht nichts dagegen, ihn zu suchen. Ihn zu finden, darf man allerdings nicht erwarten: Es ist leicht, schlicht zu leben, ohne authentisch zu sein, fährt er fort, doch schier unmöglich, authentisch zu sein, wenn man sich vor dem Einfachen fürchtet. Den Reisenden zieht es an Orte, die er noch nicht kennt, die er neu erleben kann. Er hinterfragt sich in der Bewegung. Seine Aufgabe besteht darin, sich kritisch mit sich selbst und seinen Wahrnehmungen auseinanderzusetzen. Das wusste schon Karl May, der in Durch die Wüste erklärt, man könne die alte Welt von Hammerfest nach Capstadt von England bis nach Japan durchreisen, ohne nur eine Spur von dem zu erleben, was man Abenteuer nennt. Er fordert den Reisenden auf, keinen Dolmetscher und keinen Reiseführer auf eine Reise mitzunehmen, und ist davon überzeugt, dass es auf die Persönlichkeit des Reisenden und die Art und Weise der Reise ankommt. Eine Reise per Entreprise oder mit Rundreisebillet wird sehr zahm sein, selbst wenn sie nach Celebes oder zu den Feuerländern gehen sollte. Paul Theroux, ein moderner Reisender, vermutet deshalb auch: Touristen wissen nicht, wo sie gewesen sindReisende wissen nicht, wohin sie fahren. Nostalgie, ein Begriff der sich aus nosos, Rückkehr und Heimkehr sowie algos, Schmerz zusammensetzt, ist, nicht länger ein Eskapismus, sondern die Gelegenheit, ein Gefühl wieder zu entdecken, das zugleich Heimat und Sehnsucht ist. Nostalgie ist das Heimweh an den Ort zurückzukehren, an den man glaubt zu gehören. An den Ort, nach dem wir uns alle sehnen. Niemand verkörpert diesen Archetypus glaubwürdiger als der Irrfahrer Odysseus. In diesem Gefühl verbindet sich der süße Schmerz unerfüllter Sehnsucht mit der stillen Freude über die Ankunft. Vergewisserung von Wurzeln im Auge des Orkans der Entfremdung. Landschaft ist ein Zugang. Begegnung auch. Fußreisen, tagelange Wanderungen durch fremde Kulturen, wie durch fremde Welten, führen in die Wahrnehmung der Welt ein, vermitteln eine Erfahrung, die dem Menschen die Initiative überlässt. Ich kann immer besser verstehen, warum Claude Lévi-Strauss sich gewünscht hat, im Zeitalter der wahren Reisenden gelebt zu haben. Jetzt bin ich erst einmal Tourist, was auch in Ordnung ist.


Es fühlt sich noch seltsam an, wieder in Spanien zu sein, und nicht auf Pilgerwegen zu wandern. Es fühlt sich an, wie auf einer meiner ersten Reisen durch Südeuropa, in den frühen 1970er Jahren. Da wusste ich auch nie genau, wohin die Reise geht. Es ist schwierig, zielorientiert zu trampen. Nur ein ungefähres Ziel. Reisen von der Hand in den Mund. Gestern war ich in Málaga, heute bin ich in Nerja. Morgen schon wieder anderswo. Ein Ruhetag fühlt sich an, wie ein verlorener Tag: einpacken, den Ort wechseln, wieder auspacken. Ich muss mich bescheiden: meinen Füßen und Knien sind Pausen willkommen. Drei Tage Málaga, drei Tage kilometerlanges Asphalttreten mit Barfußschuhen. Morgen, morgen gehe ich in die Berge. Morgen mache ich meine erste Wanderung; von Frigiliana zur Cueva de Nerja.


Gestern bin ich nach Nerja umgezogen. Heute ist mein erster richtiger Wandertag. Neun Monate habe ich auf diesen Augenblick gewartet. Ich bin angespannt und aufgeregt, als ich in den Bus steige, um nach Frigiliana zu fahren. Es ist früh am Morgen, der erste Bus. Er ist bis auf den letzten Platz mit Frigiliana-Fans besetzt, die wie ich in Nerja wohnen. Nur bin ich kein Fan des Dorfes, sondern begierig auf meine erste Rundwanderung. Der Bus hält unterhalb einer kleinen Plaza vor einem dekorativen Kiosk: Informationen und Puppentheater. Gegenüber El Ingenio, einst der Palast eines Adeligen aus dem 16. Jahrhundert. Seit dem 17. Jahrhundert ist das Gebäude eine Melasse-Fabrik, die Sirup aus Zuckerrohrsaft herstellt. Eine kopfsteingepflasterte Gasse führt in den historischen Kern von Frigiliana, ins Herz des Touristen Begehr. Automatisch gehe ich in die falsche Richtung, ganz versunken in den exotischen Anblick eines Pueblo Blanco, eines der berühmten Weißen Dörfer Andalusiens. Ganz ohne nachzudenken. Ob Herdentrieb oder Nervosität, ich schwimme mit dem Strom, und schließe mich gedankenlos all den anderen an, die ins Dorf hinaufströmen. Mit Rucksack und Wanderstöcken zwischen vorwiegend älteren und übergewichtigen Besuchern fühle ich mich deplatziert. Plötzlich habe ich es eilig, will die Schar schnell loswerden. Während sie sich noch den Berg hinaufmühen, schwinge ich meine Stöcke und setze mich forschen Schritts an die Spitze. Mir ist danach, ich muss einen Unterschied demonstrieren. Dann sehe ich, dass mir eine andere Schar von oben entgegenkommt, und erkenne, das es unmöglich ist, zu entkommen. Was mir begegnet, ist die immer wieder notwendige Übung in Bescheidenheit.


Es dauert lange, bis ich mich durchgefragt habe, und den richtigen Weg hinab ins Tal des Río Higuerón finde, den Start für meine Rundwanderung. Unten angekommen, ereilt mich erneut der Herdentrieb. Eine Brücke führt über einen Fluss, der kaum Wasser führt. Der Grund ist kieselig, Steine in allen Größen. Felsbrocken liegen verstreut im Fluss. Die Ufer sind dicht bewachsen. Der Wasserstand reicht noch gerade aus für eine grüne Idylle. Etwas entfernt staken zwei Wanderer durch das Flussbett, setzen langsam Fuß vor Fuß. Ich sehe sie eben noch um eine Biegung verschwinden. Wieder denke ich nicht, ich reagiere. Im Bann der Landschaft. Mir stellt sich keine Frage, ich steige die Böschung hinunter, und folge ihren Spuren. Ich bin begeistert von der Vorstellung, durch ein Flussbett zu wandern. Ein ungewöhnlicher Auftakt. Der Río Higuerón führt Niedrigwasser, weniger ist nicht mehr möglich, dann ist er nicht einmal mehr ein Bach. Aber dafür ist er zu Fuß zu nehmen. Große Strecken liegen trocken. Kiesbänke, zwischen denen der letzte Rest des Flusses nur noch ein Rinnsal ist. Zwischendurch gibt es Passagen, wo er etwas kräftiger fließt, wo Felsbrocken den Fluss blockieren und nur Trittsteine ein Weiterkommen ermöglichen. Hin und wieder haben herabgestürzte Felsen den Higuerón zu kleinen Teichen aufgestaut, sodass ich auf das Ufer klettern muss, um mich zwischen Sträuchern zur nächsten freien Stelle durchzuzwängen. Die Wanderer, denen ich gefolgt bin, habe ich längst überholt. Zwei übergewichtige Amerikanerinnen, die sich stolpernd durch das Flussbett kämpfen. Die völlig falschen Schuhe, denke ich noch, dann bin ich vorbei. Für einen Small Talk sind die beiden, den Blick konzentriert auf den unebenen Boden geheftet, nicht aufgelegt. Gesehen habe ich sie nicht mehr wieder. Es ist entspannend, und äußerst angenehm, im Schatten überhängender Äste und eng an den Fluss rückender Felswände zu wandern. Der grünlich schimmernde Dämmer, das hin und wieder durch die Blätter auf den Steinen tanzende Sonnenlicht. Bei jedem Schritt kullert Kies zur Seite. Ist er nicht schnell genug, mir auszuweichen, knirscht er schrill unter meinem harten Tritt. Das leise Gurgeln und Plätschern des Wassers, wenn es über Stufen fließt. Farbe, Licht und Klang erschaffen gemeinsam eine verzauberte Atmosphäre, die mein aufgeregtes Herz zur Ruhe bringen, und meine Gedanken in den Schlaf wiegen. Die Betriebsamkeit der Menschen in den Städten rückt an diesem Fluss in weite Ferne. Dann übernehmen die Felsen die Landschaft, stumme Wegbegleiter des Higuerón, klobig, übermannsgroß, irgendwann einmal herabgefallene Stücke der senkrecht aufragenden Felswand. Das Wasser hat sie in unfassbar langer Zeit rundgeschliffen, eine vegetationslose Zone. Sie versperren dem Higuerón den Weg, zwingen ihm eine Richtung auf. Aber er hat sich längst ein schmales Tor durch das Gestein gefräst. Auf der anderen Seite stürzt er plötzlich, befreit jauchzend, als Wasserfall kraftvoll und lärmend, über zwei Meter in die Tiefe. Mir genügen ein paar Stufen im Stein, um auf die andere Seite zu gelangen. Fische, Amphibien oder Reptilien suche ich vergebens. Ich hoffe nur, es liegt daran, dass ich lärmend durch das Wasser platsche.


Am Ende der Schlucht verliert sich der Fluss in einer flachen Senke, in der er in besseren Zeiten Kiesbänke aufgehäuft hat. Jetzt ist er zwischen den steinigen Wellen kaum noch auszumachen, aber ich sehe ein Bild, vor mir; welche Macht der Río Higuerón eigentlich ist. Ich bin mir nicht mehr sicher, wo sich sein Bett befindet, denn im Kies ist es trocken, sein Rinnsal muss woanders sein. Ausladende Agaven. Gelbe Blüten zwischen den grünen Blättern geduckter Sträucher vermitteln eine Ahnung von Feuchtigkeit. Nur ein paar Dutzend Schritte entfernt, hinter mir, sehe ich, strahlend weiß und weit entrückt, Frigiliana hoch oben auf dem Bergkamm in der Sonne liegen, weiß in grün gebettet. Eine traumhafte Silhouette, ein arabisches Märchen. Tausend und eine Nacht scheint plötzlich nah. Vom Grund der Schlucht aus unerreichbar. Zum ersten Mal kommen mir Zweifel, der Ort muss ganz woanders liegen, und mein Weg führt nicht heraus aus dem Fluss. Dass das Flussbett kein Wanderweg ist, wird mir erst jetzt bewusst. Es ist die Begeisterung, die Illusionen produziert, und mich zu diesem Weg verleitet hat. Euphorie und Endorphine sind das Geschenk des Wanderns, aber auch seine Gefährdung. Auf einer Schotterpiste, die von oben herab im Flussbett endet, geht ein Paar, betagt, wie Wanderer meistens sind. Sie steigen in den Kies und folgen einem mir unsichtbaren Weg. Den anderen Weg, der links zu einem Haus auf eine Anhöhe führt, verwerfe ich. Vermutlich endet er dort, denn ich stehe mitten in einer Furt. Der Kies knirscht noch eine Weile unter meinen Sohlen, dann verschwindet die Rambla, das trockene Bett des Río Higuerón, hinter einer dicht bewachsenen Hecke. Vom Wasser ist längst nichts mehr zu sehen oder zu hören. Ich wechsele auf eine staubige Piste, an den Rändern gelegentlich ein niedriger Strauch. Nur selten ein Baum, der mir etwas Schatten spendet. Ein blauer, wolkenloser Himmel und eine blendende Sonne haben den dämmerigen Schatten des Flussbetts abgelöst. Mittlerweile weiß ich, dass das kein Rundwanderung ist, und die Cueva de Nerja nicht mehr mein Ziel. Schon längst müsste der Weg bergauf führen. Stattdessen taucht vor mir die Skyline einer größeren Ortschaft auf. Eine Brücke über den Río Chillar, und ich bin zurück in Nerja.


Ich bin nicht enttäuscht. Schließlich war es eine Rundwanderung, wenn auch eine andere. Von Nerja zurück nach Nerja. Nicht oft bietet sich mir die Gelegenheit, unerwartet ein paar Kilometer durch einen Fluss zu wandern, auf fremden Pfaden, zu einem unerwarteten Ziel.




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