Freitag, 1. Mai 2020

La Axarquía


So wenig wie möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken,
der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung,
in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. 
Friedrich Nietzsche

Die Axarquía, die Östliche, wie die Mauren sie genannt haben, ist eine Mittelgebirgslandschaft mit größeren Hügeln und niedrigen Bergen im Hinterland der Costa del Sol, zwischen den Montes de Málaga im Westen, der Sierra de Alhama im Norden und der Sierra de Almijara im Osten. Ein sanft von Gebirgszügen umschlossenes Hügelland, ein ideales Gelände für meine Wanderungen. Ich liebe es in Windungen auf und ab zu gehen. Immer geradeaus, auf ebenen Grund, langweilt mich schnell. Ich mag die weiten Lanschaften nicht so sehr, in der mein Blick verloren geht. Das Klima der Axarquía ist subtropisch, warm und relativ trocken, und mir wohlgesonnen. Viele Ortsnamen sind maurisch. Die christliche Reconquista hat die Axarquía erst 1487 erobert, doch die schwer zugängliche Berglandschaft blieb bis ins 16. Jahrhundert eines der letzten Rückzugsgebiete der islamischen Bevölkerung. Der letzte Aufstand der Mauren gegen die intolerante christliche Verwaltung wurde 1569 in Frigiliana, am Rand der Axarquía gelegen, blutig niedergeschlagen. Seit den 1960er Jahren erzählen farbige Kacheln mit kurzen Texten an den Hauswänden die Geschichte dieser Rebellion. Die Mauren, die ehemaligen Bewohner der Axarquía, drängen sich noch anders ins Bewusstsein. Frigiliana, wie viele andere Ortschaften dieser Landschaft, haben die maurische Bauweise in die Moderne gerettet, und bis heute einen Hauch des Orients bewahrt. Doch die Siedlungsgeschichte ist alt. Die Mauren waren nur die Letzten, die dem Ort ihren Stempel aufgedrückt haben. Vor ihnen waren die Römer hier. Menschen aus dem Neolithikum haben Keramikscherben zurückgelassen.

Jeder Weg führt an ein Ziel. Man muss ihn nur zu finden wissen. Mittlerweile habe ich eine Vorstellung von dem richtigen Weg, und ich will die Rundwanderung, die mir gestern misslungen ist, noch einmal versuchen. Mit dem Bus zurück nach Frigiliana, wo auch heute zahlreiche Touristen die gepflasterte Straße ins Dorf hinaufstreben. Dieses Mal ohne mich. Noch schnell einen Café con leche in der kleinen Bar neben El Ingenio, dann bin ich bereit. Dreihundertfünfzig Meter hoch liegt Frigiliana.
Auf einer abschüssigen Betonpiste komme ich hinunter in den Cahorros Altos del Rio Higuerón, vorbei an dem eingezäunten Auffangbecken des Pozo Batán, einem Wasserspeicher für die Bewässerungsanlagen der angrenzenden Gärten. Zum zweiten Mal stehe ich am Ufer der Río Higuerón und steige in das Flussbett. Wieder sehe ich Frigiliana, die Weiße, hoch über mir in der Sonne glänzen. Auch flussaufwärts fließt das Wasser spärlich. Überall liegen Gerölle im Kies, die lange nicht mehr nass waren. Rechts von mir begrenzt eine steile Bergwand den Fluss, auf seinem linken Ufer eine sandige Piste, neben der die Flanke eines anderen Bergs sanft ansteigt. Das Wasser ist so flach, dass ich mir nicht die Mühe mache, nach Trittsteinen zu suchen. Ich gehe durch einen Fluss, dessen Wasser kaum über meine Schuhsohle reicht. Nur gelegentlich stauen Felsen den Fluss und bilden tiefere Passagen. Dann muss ich hinauf auf den Weg, der parallel zum Flussbett verläuft.

Nach wenigen Kilometern verlässt ein schmaler, kaum sichtbarer Pfad das Flussbett und steigt auf der rechten Böschung steil den Cerro Capriote hinauf, der Hügel, in dessen Schatten ich durch den Fluss gewandert bin. Die fast zweitausend Meter hohen Berge, deren Majestät den Wanderer begleitet, sind der Lucero und sein kleiner Bruder der Lucerillo. Gegenüber das Hochplateau La Cadena. Ich steige auf einem alten Weg bergwärts, von Fußgängern und ihren Maultieren vielleicht jahrhundertelang in die Flanke des Bergs getreten. Waren wurden transportiert, von Bauern und Schmugglern, Briganten auf der Flucht, Flüchtlinge wurden in die Sicherheit der Berge gebracht. Einer der Wege, die nur findet, wer sie kennt. Eine holprige Schlangenlinie, die sich mühsam über nur noch unregelmäßig vorhandene Stufen den Berg hinaufwindet, mehrere Kilometer weit. Aus der Erde ragende Steine. Von Regen und Wind ins Freie gespülte Wurzeln des Felsens. Schräge Stellen nackte Erde, wo einst vielleicht auch Stufen waren, über die ich nur rutschend vorwärts komme. Manch ein Stein, der fest im Boden verankert scheint, bricht mir unter dem Fuß weg, und kullert polternd ins Tal. Nur ein beherzter Griff ins Gebüsch rettet mich davor, ihm hinterher zu rutschen. Ich weiß nicht, wie viele Kilometer ich aufwärts gestiegen bin. Die Entfernung zu schätzen fällt mir schwerer als in der Ebene. Auf dem Kamm ist es windig, und kurze Böen zerren an meinem offenen Hemd. Sie sind willkommen erfrischend und trocknen meinen Schweiß. Etwas abseits liegen Steine, und während ich raste, und weit ins Land blicke, trifft eine Gruppe Niederländer ein, deren Rufe und Gespräch ich seit Minuten näherkommen höre. Die Luft trägt den Schall weit am Berg. Sie gehen weiter, verweilen nur einen Moment für ein Foto der herrlichen Bergwelt. Wie hoch mag der Cerro Caprione sein? Siebenhundert Meter, achthundert vielleicht. Oben auf dem Kamm bin ich hoch genug. Rundherum entfalten sich die Berge, ein Leporello schroffer und sanfter Formen. Die höchsten von ihnen, die Berge, sind spitz und kantig, eine grauschwarze Zickzacklinie vor einem tiefblauen, mediterranen Himmel. Im Gegenlicht sind kaum Details erkennbar. Die kleineren Hügel schwingen zu ihren Füßen in sanfte ansteigende und abfallende Landschaften. Einmal laufen sie mit ihnen in die gleiche Richtung, ein anderes Mal bilden sie einen Riegel quer zu ihnen. Ihre Flanken erinnern an die steilen Seiten eines spitzen Winkels. Sie strahlen noch im Frühlingsgrün, grau gesprenkelt vom Kalkstein, der durch die dünne Krume bricht. Die Sonne hat noch nicht die Kraft, sie grau und braun zu brennen. Ich schaue hinauf, um Vögel zu sehen, besonders Adler oder Falke, die hier leben sollen. Doch der Himmel ist weit und leer. In der Ferne, wo die Berge zurücktreten, und der schmalen Küstenebene weichen, liegt Torre del Mar mit seinen sandigen Stränden. Immer wieder öffnet sich ein Blick aufs Mittelmeer, auf den einen oder anderen Ort, der Costa im Namen führt. Aus dem Boden gestampfte Urbanisaciónes, deren saisonale Bewohnerzahl die der Orte im Landesinneren überflügelt hat. Kurze Zeit später erreiche ich eine Weggabelung und sehe weit vor mir farbige Flecken im dunklen Grün. Die Wanderer aus dem flachen Holland auf der falschen Seite des Cerro Capriote. Ich rufe, doch sie sind schon zu weit entfernt, und hören mein Rufen nicht mehr. Ich bin nicht der Einzige, der sich verläuft. Ich lasse ihnen ihre Erfahrungen. Ich habe ein Gefühl für die Richtung, und fühle mich auf dem richtigen Weg.

Vom Kamm schlängelt sich der Pfad an den Río Chillar hinab, in den nördlich von Nerja der Río Higuerón mündet. Vereint fließen beide ins Meer. Jetzt ist die letzte Etappe des Higuerón eine Rambla. Ich frage mich, wohin er verschwunden ist. Der Bergpfad windet sich auf und ab, durch enge Schluchten und über offene Hänge, vorbei an einzelnen Pinien. Es riecht harzig, nach Kräutern und Blüten. Überall wachsen Rosmarin, Salbei, Stech- und Besenginster. Lange bevor ich den Fluss sehe, höre ich sein Rauschen, mit dem er über Kaskaden aus Kalkstein ins Tal strömt. Unverkennbar das Plätschern von Wasser, das über Steine fließt, eine fröhliche, anregende Melodie, die meinen Rhythmus belebt. Der Weg folgt nun dem Fluss an eine Furt, die auf Trittsteinen etwas schwerer zu queren ist als gestern der Río Higuerón. Der Chillar führt nicht nur mehr Wasser, er hat auch mehr Gefälle, über das im Frühjahr die Schmelzwässer der höher liegenden Sierras talwärts fließen. Die im Higuerón trockenen Gerölle bilden nun die Instrumente, auf denen der Chillar sein Lied spielt. Alle Klänge, die das Wasser kann, sind zu hören: murmeln, plätschern, platschen, klatschen, gurgeln, tropfen, spritzen und rieseln. Sind die Steine nass, glänzen sie goldbraun, trocken zeigen sie ein stumpfes Ocker. Zwischen ihnen sprießt kräftig grünes Gewächs, Grasbüschel, die mit ihren Füßen im Wasser stehen. Um alles herum schäumt und spritzt der Fluss lebhaft sprudelnd ins Tal, seiner Bestimmung entgegen, jenseits von Nerja. Irgendwo im Gelände verlasse ich das Flussbett des Chillar wieder und steige den nächsten Hügel hinauf.

Steil führt der Pfad auf einen anderen Hang, der an einem Bewässerungsgraben endet, einem der Acequias, die die Mauren in Andalusien eingeführt haben. Der Kanal, der Nerja mit Wasser versorgt. Es gibt immer mehr Wege, als ich brauche, und ich verpasse den Weg nach Fuente del Esparto. Stattdessen stehe ich unverhofft in El Pinarillo, einem Erholungspark, wie es sie in Spanien in der Umgebung großer Städte häufig gibt. Mit Bänken, Tischen und Grillplätzen ausgestattet, sollen sie Familien ins Freie locken. Doch oft sind sie ungepflegt, marode, und gähnen ins Leere. Auch El Pinarillo liegt verlassen zwischen den Pinien. Eine Gruppe anderer Niederländer kommt aus einem Seitenweg auf die Piste. Zusammen klären wir den Weg zur Cueva de Nerja. Die kilometerlange, staubige Piste, auf der mich immer wieder ein Auto überholt, und mir eine Staubwolke ins Gesicht bläst, führt durch die Ausläufer der Hügel ans Meer hinab. Auf beiden Seiten wachsen Oliven, Pinien und allerlei Buschwerk; grün auf rötlicher Erde. Aus dem Tal des Río Chillar schallen Albernheiten und Lachen herauf. Kinder baden und vergnügen sich im kühlen Fluss. Es ist später Nachmittag, doch die Sonne steht noch hoch über mir. Es ist heiß geworden über den Hängen am Fluss. Fast beneide ich die Kleinen um ihr schattiges Bad.

Ich stelle mir gerne vor, wieder ganz am Anfang zu stehen, als sich die ersten Menschenähnlichen aufrichteten, in ihrer ganzen Körperlichkeit. Damals, vor langer Zeit, als der erste Australopithecus aus dem Wald trat, die Bäume verließ, auf denen er lebte, und in die verlockende Weite der Savanne blickte. Wie er sich gefühlt haben muss, als er erstmals aufrecht stand und seinen Blick befreite. Der Mensch beginnt bei den Füßen, behauptet André Leroi-Gourhan, der französische Prähistoriker, auch wenn es inzwischen nicht mehr so aussieht, weil er ständig die unterschiedlichsten Maschinen für seine Bewegung benutzt. Als der Mensch sich zum ersten Mal aufrichtete, sich auf zwei Füße stellte, um den aufrechten Gang zu probieren, befreite er Hand und Blick. Einer der ersten Primaten, ein Urmensch, ein Australopithecus in den Steppen Ostafrikas, kam vor über drei Millionen Jahren auf diesen sehr einfachen, revolutionären Gedanken. Die Innovation eines Individuums von nicht vorhersehbarem Ausmaß. Die Zeit war reif und brachte den entscheidenden, evolutionären Vorteil, dem wir unsere heutige Lebensweise verdanken. In der Konsequenz begann das Gehirn der Frühmenschen zu wachsen. Der aufrechte Gang wurde zur Voraussetzung für die Entwicklung von Großhirnrinde und Bewusstsein des Homo sapiens, der als Homo viator, als wandernder, umherstreifender Mensch, die Welt eroberte. Es ist kaum noch vorstellbar, dass der Aufstieg des Homo sapiens als Nomade begann, so weit hat er sich von seinem Ursprung entfernt. Wie bedauerlich, dass Bruce Chatwin sein Nomadenprojekt nicht abschließen konnte. In meiner Epoche sterben die letzten nomadischen Kulturen Südostasiens, Amazoniens und Afrikas aus oder werden soweit an den Rand gedrängt, dass sie nicht überleben werden. Die australischen Aborigines orientierten sich auf ihren Streifzügen durch den Kontinent an sogenannten Songlines, geographischen Mindmaps, die sie in ihren Liedern überliefern. Wahrscheinlich besitzen die Punan im Regenwald Kalimantans oder die !Kung San der Kalahari ähnliche Rituale oder Überlieferungen. Sie sind die letzten Nomaden, und wenn sie gehen, verlieren wir die ursprünglichste Lebensform unserer Art, und damit einen Teil unserer kulturellen, ethnischen Identität. Ein Archetyp stirbt. Ich verstehe nicht, wie sich diese Völker im oft unwegsamen Gelände sicher orientieren. Ihre sakrale Geografie hat jedenfalls nichts mir unserer Kartographie zu tun. Am ehesten noch mit Mcfarlanes Geschichtenkarten. Wie hilflos müssen diesen Wegkundigen Menschen erscheinen, die ihren Weg ohne Smartphone und Navigationssoftware bald nicht mehr finden werden. Was das für das menschliche Bewusstsein bedeutet, will ich mir gar nicht erst vorstellen. Intensives Gehen, richtig betrieben, fördert wie jede andere leibliche Beschäftigung das Bedürfnis fortzufahren. Nur die körperliche Kondition setzt die individuelle Grenze. Eine Begrenzung für Gefühle und psychische Befindlichkeit gibt es nicht. Die anhaltende, gleichmäßige Bewegung des Gehens bringt mich in einen intensiven Kontakt mit der Natur. Ich kann die unterschiedlichen Stimmungen, Nuancen und Färbungen um mich herum spüren, ich rieche ihren Geruch und höre ihre Geräusche, die in mir eine ganzheitliche Atmosphäre komponieren: die Landschaft, in ihrer von mir wahrgenommenen Existenz. In meinem Blut schlagen die Endorphine Blasen, nicht an meinen Füßen. Gehen ist zuallererst eine körperliche Aktivität, die sich aber auch psychisch auswirkt. Gehen heißt, durch den Körper wahrnehmen, zu spüren und empfinden. Gehen fördert und schult die sinnliche Wahrnehmung. Es öffnet unser Bewusstsein für unsere Umgebung, für die Welt. Gehen ist meditativ, und es kommt nicht selten vor, dass ich mich nach einer gegangenen Meditation verändert fühle. Gehen ist nicht allein eine Vorwärtsbewegung durch den Raum, Gehen führt den Fußgänger zu sich selbst, und zeigt ihm, wer er ist. Ein solcher Moment der Ganzheit, ist der Ewigkeitsmoment, an den Peter Mathiessen gedacht haben muss, als er davon sprach, ihn nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Aber worin besteht der richtige Gebrauch der Zeit, die wir haben? Wir können vieles über die Zeit lernen, wenn wir Meister Horas Schildkröte Kassiopeia fragen. Und viel über Realität und Bewusstsein von Alice und dem Siebenschläfer auf der Teegesellschaft des verrückten Hutmachers. Im Zeitalter der Hypermobilität ist zu Fuß gehen subversiv. Das wussten bereits die Wandervögel, die amerikanischen Hobos und Beatniks sowie die nach ihnen kommenden Hippies, die auch andere, maschinelle Fortbewegungsmittel nutzten, weil sie weiter fortwollten als die Wandervögel, die den Nahbereich durchwanderten, jemals gekommen sind. Weiter als all die anderen, und manchmal sogar von sich selbst. Vor allem eins wollten sie: frei sein und selbstbestimmt, auch wenn sie dazu auf den höchsten Berg steigen oder bis ans Ende der Welt reisen mussten. Manches Mal frage ich mich, was die vielen Menschen, denen ich begegne, von mir denken, wenn sie wüssten, wie oft ich ziellos durch meine Stadt streife.

Die Piste endet in Maro, einem Städtchen an der Costa del Sol, vor der Schranke eines großen Parkplatzes, der die Cueva de Nerja mit einer Schranke abschirmt. Die Weite der Landschaft ist vor der Enge der Stadt zurückgewichen. Die Höhle ist eine gefragte Touristenattraktion. Glaubt man den Besucherzahlen, dann steht sie an dritter Stelle unter den Sehenswürdigkeiten Spaniens. Warum sie Cueva de Nerja, und nicht Cueva de Maro heißt, verstehe ich nicht. Bis Nerja fehlen noch sechs Kilometer. Wirtschaftliches Kalkül? Nerja kennen viele, doch wer kennt schon Maro? Und so geht es Maro wie Almería, der Stadt an der wirklichen Sonnenküste, die ihren Titel Costa del Sol an Málaga verlor. Trotz ihrer Größe, und der bis zu sechzig Meter hohen Tropfsteinformationen, präsentiert sich mir das vier kilometerlange Höhlensystem als Flop, hat nichts Beeindruckendes, Interessantes, erst recht nichts Faszinierendes oder Ungewöhnliches zu bieten. Gepflegte Wege für leichtes Schuhwerk, helles Licht aus zahlreichen Scheinwerfern, die gezielte Spots ins Höhleninnere werfen. Die aufwändige Inszenierung wirkt kitschig. Ihr ist nichts geblieben vom Geheimnisvollen prähistorischer Höhlen. Funktionelle Musik säuselt im Hintergrund und suggeriert vergebens eine andächtige Stimmung. In der Höhle von Nerja rückt der Unterschied zwischen einem Touristen und Reisenden in greifbare Nähe. Während der eine sich mit vorgefertigter Kost zufrieden gibt, sucht der andere nach dem Befremdlichen, dem Ungewöhnlichen und Unbekannten. Ein Raum stellt die Ergebnisse der archäologischen Recherchen aus. Das Skelett einer neolithischen Frau aus dem sechsten vorchristlichen Jahrtausend, die an den Folgen einer Mittelohrentzündung starb. Wie faszinierend, so etwas zu wissen. Werkzeuge, die üblichen Keramikscherben sowie Schmuck, gefertigt aus Stein und Knochen. Artefakte, die bis in die Bronzezeit reichen, liegen in den Vitrinen. Eine lange, dokumentierte Besiedlung. Von der wahren Attraktion sind nur Fotos zu sehen. Die Höhle wurde 1959 entdeckt, die Malereien, die Seehunde darstellen, erst 2012. Aufgrund von Resten einer Feuerstelle datierte man sie, ziemlich vorschnell auf ein Alter von 43 000 Jahren. Die ersten bekannten Kunstwerke in der Geschichte der Menschheit, hieß es, ohne zu berücksichtigen, dass die Datierung nicht an den Malereien selbst erhoben wurde. Neuere Untersuchungen sprechen von 20 000 Jahren. Das ist wahrscheinlicher. Dann wären es Menschen des frühesten Magdaléniens, die sich in der Höhle aufgehalten haben, und keine Neandertaler. Doch es ist genauso vorschnell, dem Homo sapiens neanderthalensis einen Sinn für Religion und Kunst abzusprechen. Die Cueva de Maltroviesa am Stadtrand des nicht sehr weit entfernten Cáceres beweist das Gegenteil. In ihr wurden Handabdrücke und andere Symbole gefunden, die wahrscheinlich 60 000 Jahre alt sind. Symbolisches Denken kannte anscheinend schon der Neandertaler des Moustériens. Trotzdem, eine Kathedrale der Vorgeschichte ist die Cueva de Nerja nicht, verglichen mit Altamira und Lascaux, Höhlen, die ähnlich ehrwürdige Titel beanspruchen. Ein Titel bleibt dem Neandertaler aber unbenommen: So weit wir wissen, ist er der erste Europäer. Und: Er war ein hervorragender Wanderer.
Eine Höhle mit urgeschichtlichen, künstlerischen Ausdrucksweisen zu betreten, die allem Anschein nach religiös motiviert sind, ist etwas besonders Beeindruckendes. Sind die Malereien nicht öffentlich zugänglich, was durchaus nachvollziehbar und begrüßenswert ist, dann verliert die Höhle mein Interesse. Ich habe viele franko-kantabrische Höhlen besucht und vor den Malereien der sogenannten Eiszeitkunst gestanden, zutiefst ergriffen von dem Hauch der Numinosität, der in diesen Höhlenpassagen herrscht. Zu wissen, hinter der nächsten Biegung, an der nächsten Wand, liegen die sakralen Räume, und nicht weitergehen zu dürfen, frustriert mich ungemein. Mich trösten auch keine musealen Installationen, wie sie Altamira und Lascaux dem Besucher präsentieren. Sie zeigen nur die Bilder, ohne die Atmosphären ihres räumlichen Kontextes, der dazugehört, wie ihre Gestalt und Farbigkeit; blasse Reproduktionen, ohne das flammende Herz, das in ihnen wohnt.



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