der kuss der freiheit
andere welten verspricht
der blick durchs fenster
Drei Regentage in Orgíva sind genug. Ich habe mich
von der Enge des österlichen Treibens in Granada erholt. Als ich in Orgíva
eintraf, ahnte ich nicht einmal, welche Erinnerungen der Ort ans Licht ziehen
würde. In einem Zimmer, gerade einmal groß genug für ein Bett, in einem
Städtchen ohne jede Spur touristischen Rummels. Ein paar Tage, ohne mich durch
Scharen von Besuchern aus aller Welt zu schieben. Das habe ich gewollt.
Orgíva, eine kleine Provinzstadt südlich der majestätischen
Sierra Nevada, liegt in einer Schwemmlandebene, auf dem Hochufer des Río Chico;
nicht verschlafen, aber lange nicht so umtriebig wie Lanjarón mit seinem
Kurbetrieb und den vielen älteren Badegästen. Lanjarón gibt sich mondän. Orgívas
Charme liegt versteckt. Er will gefunden werden. Beide Orte beanspruchen, das
Tor in die Alpujarras zu sein: für die Durchreisenden, die einsamen Wanderer,
für Nostalgiehippies mit ihren Rucksäcken und Kurgästen mit ihren großen
Rollkoffern. Der fünftausend Seelenort ist ein recht lebendiges, regionales
Zentrum mit Markt und Busverkehr zu allen wichtigen Zielen in den Alpujarras,
auf halbem Weg zwischen Granada und Almería, die Hauptstadt der Alpujarra
Granadina. Orgíva liegt an einem Scheideweg, dort wo sich der Weg in die
Alpujarra Alta und Alpujarra Baja gabelt. Pauschaltouristenfrei. In Orgíva gibt
es nichts Aufregendes, nichts zu besichtigen und keine exotischen Fotomotive.
Einsam stehen die grauen Statuen von zwei Männern gegenüber der Kirche des
Sterbenden Christus - Cristo de la Expiración – mit Werken aus
der Schule des bedeutenden Barockbildhauers des Siglo de Oro: Juan Martínez
Montanés. Sie kamen in der 1930er Jahren zu Besuch. Ich weiß nicht einmal, ob
gemeinsam. Haben sie sich hierhin zurückgezogen, der Kontemplation wegen, wie
ich, oder verfolgten sie einen bestimmten Zweck; nur eine Rast auf dem Weg zur
Kur nach Lanjarón. In lange Staubmäntel gehüllt, stehen sie gelassen auf ihrem
Platz, schauen sie die Straße hinauf, als gäbe es dort mehr zu sehen, als ich
erkennen kann. Beide sind lange tot und weltberühmt: der Komponist Manuel de
Falla und der Dichter Federico García Lorca. Zwei Ikonen spanischer Identität.
Die Kirche ist stattlich, nicht sehr attraktiv, wäre da nicht der schöne
Glockenklang, mit dem sie viertelstündlich die Zeit verkündet. In Orgíva ist es
allzu leicht zu vergessen, wozu man Uhren braucht. Wer aus den Bergen der
Alpujarras kommt, findet die Umgebung reizlos, uninteressant und langweilig. Er
ist so mit den Bildern einer grandiosen Berglandschaft erfüllt, dass es schwerfällt,
den Blick auf die vielen Kleinigkeiten zu fokussieren, die nichts
Spektakuläres, aber viel Lokalkolorit besitzen. Dem Enthusiasten verhilft der
Aufenthalt in Orgíva dazu, den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren.
Trotzdem kann mich nichts zum Wandern verführen. Ich bin noch zu sehr
beeindruckt. Die Vorstellung, dass Orgíva weiter träumt, gefällt mir.
Drei Tage im Regen. Ein Gegenentwurf jeder Reise, um die
entstandenen Erwartungen aufzumischen. Ich wohne in einem in die Jahre
gekommenen Hippiehotel, das sicher bessere Tage gesehen hat. Ganz zentral gelegen,
gleich neben der Kirche, gefällt sich das Gebäude in schreienden Farben,
perfekt im Stil der 1970er Jahre inszeniert. Psychodelisches, das sich
aufdrängt, und nicht zur Atmosphäre Orgívas passen will. Ich spüre den Sog
meiner Jugend, der aus dem Gebäude strömt. Der morbide Charme vergangener
Größe. Der Gipfel der Modernität prangt in großen Lettern hoch oben, fast unter
dem Dach: Internet verfügbar. Ein gealterter Sannyasin, freundlich und
zugewandt, ein Original, ein wenig verschroben, empfängt mich. Er ist ein
Nachbar, sagt er, die Besitzerin, eine Deutsche, macht in Wiesbaden Urlaub. Als
ich ihn frage, wo ich etwas essen bekomme, sagt er schwierig, und bringt mir
Reis, Olivenöl, Zwiebeln Knoblauch und Rettich in die Küche. Dazu ein Stück
selbst gebackenes Weißbrot, Tage alt, hart und trocken. Die richtigen
Zutaten für eine vegane Mahlzeit. Aber mir steht nicht der Sinn danach zu
kochen. Über meinem Bett bewacht ein Portrait von John Lennon meinen Schlaf; der
Raum, in Gelb und Orange gestylt. Wieder psychodelisch. Ein schmales Bett mit durchgelegener
Matratze, ein Tisch, ein klappriger Sessel. Zwei Meter breit, vier Meter lang. Sargform,
asketisch. Kaum genug Platz, um sich zu bewegen. Die Wohnung im zweiten
Obergeschoss ist passabel. Ich habe sie für mich allein. Der nächste Gast kommt
erst am Wochenende; wenn ich wieder abgereist bin. Ich bleibe der einzige Gast
in diesem kuriosen Etablissement mit Vergangenem in jedem Winkel.
Órgivas Einwohner sind international gemischt. Achtzig
verschiedene Nationen haben sich in der Stadt und im Umland angesiedelt. Der
Ort besitzt noch immer den Ruf eines internationalen Travellertreffs. Doch ihm
fehlt die spanische Herzlichkeit, was vielleicht nur am widrigen Wetter liegt.
Das Straßenbild ist bunt gemischt. Ständig treffe ich Menschen mit Rucksäcken,
die aus einem Bus aussteigen oder zu einem anderen Bus eilen, unkonventionell
gekleidete Männer und Frauen, viele mit Hund. Freaks, übrig Gebliebene,
vielleicht Zeitreisende aus den 1960er Jahren. Dazwischen junge Neo-Hippies, Neugierige, die
von dieser Attraktion Orgívas gehörten, die von vergangenen Abenteuern träumen,
von Erlebnissen on the road, unterwegs auf fremden Pfaden. Weder die Zeit
noch die Geschichte lässt sich rückwärts drehen. Nachahmung unmöglich! Jede Generation
ist aufgefordert, etwas Eigenes, sie charakterisierendes zu gestalten. Ursprung
und Heimat wehen mich an. Reminiszenzen meiner Jugend, als ich selbst mit
idealistischem Enthusiasmus in die Welt aufbrach, einen Weg einschlug, den ich
nicht mehr verlassen habe. Farbige, bunt zusammengestellte Kleidung, weite
Hemden und Hosen, Sandalen, lange Haare mit Bändern und Glöckchen oder
Dreadlocks. Natürlich Bärte, in jeder nur möglichen Façon. Der Brite Chris
Stewart siedelte nach Orgíva über, nachdem er Gerald Brenans Buch gelesen und
die Landschaft selbst gesehen hatte. Er kaufte das Landgut El Valero und blieb.
Amüsant und selbstkritisch beschreibt er in Driving Over Lemons. An
Optimist in Andalucía seine Zeit als Landwirt in den Alpujarras. Nach
Brenans South Of Granada bietet es die beste literarische
Einstimmung für einen Besuch: Goin' Up The Country! Den
musikalischen Sound der Hippieträume liefern The Canned Heat dazu;
vom natürlichen Leben auf dem Lande, von Autarkie und Konsumverweigerung:
I'm goin' up the country, baby don't you want to go?
I'm goin' to some place, I've never been before
I'm goin' I'm goin' where the water tastes like wine
I'm gonna leave this city, got to get away
All this fussin' and fightin' man, you know I sure can't stay
So baby pack your leavin' trunk
You know we've got to leave today
Just exactly where we're goin' I cannot say
But we might even leave the U.S.A.
It's a brand new game, that I want to play
Das Städtchen ist andalusisch. Die große Durchgangsstraße,
die von ihr aufwärts abbiegenden Gassen und Gässchen. Kleine Plätze, an denen
sich die Wege treffen und wieder trennen. Dazwischen Blumen, Pflanzen in Kübeln
und Gärten hinter dem Haus. Zentral das Meson El Vieja Molina: ein
großer Innenhof mit Bar, Treffpunkt der Szene und der wenigen Besucher, die
nicht zur Szene und nicht zu den Einheimischen gehören. Ein spanisches Meson
war einst nicht nur ein Restaurant. Man findet sie noch überall, besonders in
ländlichen Regionen, an Hauptverkehrswegen, Kreuzungen, einsam gelegenen in
Bergen, Tälern oder an Furten. Zahlreich entlang der Jakobswege. Häuser
wie Die Alte Mühle in Orgíva waren Gasthof, Herberge,
Poststation, Handelsposten und beliebte Treffs für die berüchtigten Bandoleros.
Nicht mehr im Zentrum gelegen, das moderne Hotel Mirasol mit
großem Restaurant, steril und unlebendig. Nach Motril, ans Meer, braucht der
Bus nur eine halbe Stunde. Orgíva, liegt nicht wirklich in den Alpujarras, aber
es ist nur ein Katzensprung dorthin. Wie Lanjarón, ein Tor in diese herrliche
Bergwelt.
Ich sitze bereits im Bus, als mir bewusst wird, wie
ungern ich die Alpujarras verlasse. Eine melancholische Stimmung streift mich,
noch keine Traurigkeit, mehr das Gefühl, dass etwas Schönes, viel zu schnell
Liebgewonnenes, unwiderruflich zu Ende gegangen ist. Die Fahrt nach Almería
wird ein zweistündiger Alptraum. Der Weg hinunter an die Küste nach Motril,
durch Lanjarón und Orgíva, öffnet letzte Blicke auf die Berghänge der
Alpujarras. Zuletzt sind es immer niedrigere Hügel, die den aufgestauten Río
Guadalfeo umgeben, der ein großes, langgestrecktes Tal geflutet hat. Noch ist die
Landschaft malerisch und lässt nicht erwarten, was mir bevorsteht.
Motril ist noch nicht lange im Rückfenster des Busses
verschwunden, als ich sie zum ersten Mal sehe: die Costa Plastico,
die Plastik-Küste, wo in riesigen Gewächshäusern das Gemüse für Europa wächst.
Östlich der Costa Tropical geht der Küstenstreifen allmählich in die Costa de
Almería über, die sich entlang des Golfo de Almería bis zum Cabo de Gata
erstreckt, dort, wo die spanische Mittelmeerküste nach Norden abbiegt, anderen
Sonnenressorts und Badestränden entgegen. Der Küstenstreifen ist felsig, die
Berge stürzen an vielen Stellen steil hinunter ins Meer. Die Landstraße führt
immer wieder durch einen Tunnel, und muss unter großen Mühen durch die Felsen
gebrochen worden sein. Dazwischen dehnen sich ausgedehnte, verlandete Buchten
aus. Sie wechseln sich mit schroffen Felsen ab, die ins Meer ragen. An ihren
Wuzeln tobt sich unermüdlich die Brandung aus, entreißt dem Land große
Felsbrocken, und zermahlt sie generationenlang zu dunklem Kies, zuletzt zu
feinem Sand. Die Küstenstraße unterquert diese Berge, hat sich unter ihnen
hindurch durch das Gestein gefressen. Dazwischen siedeln Menschen in entlegenen
Dörfern oder touristischen Küstenstädtchen. Im Verlauf der Jahre entstanden um
diese Siedlungen die berüchtigten Gewächshäuser, Plastikplanenareale, unter
denen Gemüse und Früchte reifen, besonders in den Monaten, wenn die Natur des
Nordens noch nichts hergibt. Ich stelle mir vor, was passiert, wenn diese
riesigen Plastikmassen in die natürlichen Kreisläufe, in den Ozean, in die
Nahrung gelangen.
Wie jeder Alptraum beginnt auch dieser mit einem leichten
Grusel, der in kribbelnden Wellen meinen Rücken abwärts fließt. Der Bus fährt
durch Dörfer und Städtchen, die sich zwischen der N-340 und dem Strand
aufreihen: Calahonda, Castell de Ferra, La Rábita, Adra und El Ejido. Fahrgäste
steigen ein und aus, und ich kann mir die Orte anzusehen, zwar oberflächlich
nur, aber mehr will ich von ihnen gar nicht sehen. Alle haben sich schon vor
langer Zeit dem Tourismus hingegeben. Alles rüstet sich, der diesjährige Boom
steht kurz bevor. Monotone Ortsbilder, gleichförmig und uninteressant. So
langweilig, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass sich wesentliches in ihnen
ereignet. Nichts unterscheidet einen vom anderen. Die Gegend gehörte lange Zeit
zu einer der unterentwickelten Regionen Andalusiens. Mit dem Aufschwung des
Tourismus und der Plastik-Landwirtschaft hat sich das allmählich geändert. Für
die Menschen ein Segen, für die Landschaft und die Natur eine Katastrophe. Doch
wer will werten, weil Menschen im kapitalistischen Zeitalter ihre Existenz
sichern müssen? Ob das mit allen Mitteln geschehen muss, ich glaube nicht. Es
fällt leicht, ein Wirtschaftssystem, das die Regeln und Möglichkeiten definiert,
zu verurteilen. Das ändert nichts: Jeder einzelne ist verantwortlich. Ich habe
es mir nicht vorstellen können: Die ganze Küste, nur die Berge sind frei geblieben,
ist in Plastik eingepackt. Die Ortschaften wirken wie Inseln in einem Meer aus
schmutzigen, verstaubten Plastikfolien, soweit ich sehen kann. Bis hinunter an
die Strände, bis nah an die Berge und auf Terrassen sogar noch ein Stück den
Berghang hinauf, reicht diese Plastikwelt. Wenn ich meine Fantasie bemühe, um
mich vor der Realität zu schützen, kann ich mir einbilden, auf rechteckige
Fischteiche zu schauen, die im Licht der Sonne glitzern. Doch wenn ich
näherkomme, platzt die Illusion, und ich sehe auf trübes, zerrissenes Plastik. Eine
schmutzige, grauenhafte Kulisse. Von der Landschaft, die ohnehin nicht
besonders reizvoll ist, bleibt nicht viel übrig. Auch die wenigen Strände, die aus
dem Busfenster zu sehen sind, und nicht an dieses Plastikmeer grenzen, haben
nichts Überzeugendes. Sie sind grau und kieselig. Immer wieder schließe ich
meine Augen, doch wie das Schöne, ist auch das Schreckliche faszinierend. Bis
an den Stadtrand von Almería ändert sich nichts. Im Westen der Stadt greift die
Plastikwelt nach den Vororten. Unentwegt der gleiche Blick auf Plastikplanen.
Erst als der Bus die Vororte hinter sich lässt, lockert das Plastik seinen
Griff um die Landschaft.
An der Costa de Almería reihen sich Strände und
Ferienanlagen aneinander. Darin steht sie der Costa del Sol in nichts nach,
trug sie doch einst selbst diesen stolzen Namen, bevor ihn Málaga raubte. Die
Küste bilden kleine Buchten und Steilhänge, die malerischsten davon, nicht
leicht erreichbar. Im Südosten der Provinz Almería bildet das
Biosphärenreservat und Naturschutzgebiet Cabo de Gata-Nijar
eine einzigartige Region, vulkanischen Ursprungs, eine geologische
Besonderheit. Verschiedene Gras- und Straucharten, Agaven sowie Mollusken und
Krustentiere dominieren das Landschaftsbild. Wie leicht, den Namen dieser
sandigen Felswüste als Katzenkap misszuverstehen, doch er leitet sich von agata ab,
dem spanischen Wort für Achat. Cabo de Gata, das Achatkap:
ockergelbes Kalkgestein, grüne Agaven und Opuntien, grau-schwarzer vulkanischer
Tuff und das tiefblaue Meer. Eine weite Landschaft erwartet den Wanderer. Kaum
ein Baum, geschweige denn ein Wald, der den Blick begrenzt. Gedeckte Farben,
harte Kanten und schroffe Kontraste, grün gesprenkelt sind Sand und Steine,
nicht weit entfernt davon, eine Wüste zu sein. Für mich repräsentiert das
Achatkap das ganz andere meines Lebens. Ich bin noch in keiner Landschaft
gewandert, die so spröde ist, die sich so abweisend gibt und doch so
faszinierend ist. Allerdings bedarf es Ausdauer, Geduld und Achtsamkeit für die
vielen kleinen Dinge am Weg, eines feineren Empfindens und eines dehnbaren
Zeitgefühls. Ein Abstecher auf einen fremden Planeten kann nicht wunderlicher
sein. Eine Landschaft wie das Cabo de Gata habe ich noch nicht gesehen: bizarr,
urtümlich, schroff, kantig, scharf und hart. Und trocken. Eine aride
Kostbarkeit. Zwischendurch die sind lieblichsten Strände. Aber sie wollen
erobert werden, wie spröde Schönheiten, die ihre Reize hinter Schleiern
verbergen. Ich habe mich ihnen Schritt für Schritt genähert, und Blick für
Blick, bis sie mich küssten. Einfache Wege führen dahin, wo schon alle gewesen
sind, wo es nichts mehr zu erleben gibt. Beim Wandern geht es um Freiheit und
Selbstbestimmung, und auch darum, sein Leben über den Alltag hinaus
auszudehnen. Das Vertraute loszulassen, die eigenen Grenzen kennenzulernen und
zu erkunden. Niemand schreibt mir etwas vor, und ich allein bestimme über den
nächsten Schritt. Um Mut, ohne Übermut, wenn das Risiko schwer einzuschätzen
ist. Um neue Erlebnisse und alte Erinnerungen. Um Glück, Euphorie und
Zufriedenheit, aber auch um Anstrengung, Herausforderung, Scheitern und
Schmerz. Die Begegnung mit der Natur schenkt mir Erlebnisse und Erfahrungen,
die ich im Dickicht der Städte nicht finden kann. Ich bezweifele sogar, dass es
sie dort noch gibt.
San José, ein beschauliches Zentrum des Tourismus.
Jedenfalls im Frühling. Am Stadtstrand tummeln sich Eltern mit Kindern,
Sonnenbadende cremen sich ein und strecken sich gelassen auf ihr Badelaken.
Niemand schwimmt in der ruhigen Bucht, die nur flache Wellen ans Land lässt. Das
Wasser des Mittelmeers ist noch zu kalt für genüssliches Schwimmen der Großen und
verspieltes Toben der Kleinen. Immer wieder schaut die Sonne vorbei, die im
April noch nicht zuverlässig ist. Kein Gedränge auf der Strandpromenade. In den
Cafés und Restaurants gibt es immer einen freien Platz. Die Gassen, die überall
von der Hauptstraße abzweigen, die den Ort in zwei Hälften schneidet, sind
menschenleer. Tote Fassaden mit heruntergelassenen Jalousien. Weiß gekalkt wie
die Maske des Pierrots. Feriendomizile im Tiefschlaf der Erwartung. Das
Gedränge Nerjas und Frigilianas blickt als drohende Nemesis über die Dächer.
Die Umgebung von San José verfügt über mehrere Strände,
doch ich entscheide mich für die Playa de los Genoveses, jenseits
eines flachen Hügels, auf den die Häuser des Ortes allmählich hinaufwachsen. Ich
weiß nicht, warum gerade dieser Strand, doch das ist nicht wichtig, denn es ist
der richtige. Aus dem Zentrum steigt die Straße langsam bergan, zuerst an den
touristischen Etablissements vorbei, die den kleinen Ort, der San José einst
war, wie Räuber belagern, die lohnende Beute wittern. Die gleiche Atmosphäre,
wie in jedem beliebigen Ort weltweit, wo sich Touristen zum alljährlichen
Babylon versammeln. Doch schon einige hundert Meter weiter, und der Rummel der
Andenkenläden und Gastronomie liegt hinter mir. Die Zeichen des Tourismus,
dessen Präsenz spürbar in der Luft liegt. Aber noch liegen die Straßen ruhig
und still in der Morgensonne, das eine oder andere parkende Auto, ein Passant
oder eine Katze, die aufgestört träge die Straßenseite wechselt. Die meisten
der Häuser sind verschlossen, das Leben im Inneren, wenn es eines gibt, findet
vergittert hinter den Fenstern und Türen statt. Es herrscht die Ruhe vor dem
sommerlichen Ansturm. Obwohl alle Häuser weiß gekalkt sind, ist San José kein charakteristisches
andalusisches Pueblo Blanco. Dem Dorf fehlen die
charakteristischen, verwinkelten Gassen, die überdauernde maurische
Siedlungsstruktur, die einen Berghang nutzt, sowie das Kastell, in dessen
Schatten viele dieser Dörfer liegen. Ich gehe höher hinauf, und blicke über die
niedrigen Häuser auf den fast leeren Stadtstrand, der in einem ausladenden
Bogen am Yachthafen endet.
Weiter südlich die Playa de los Genoveses. Ein
langer, gebogener, gelber Streifen, weit über einen Kilometer, an den parallele
Reihen schaumgekrönter Wellen stranden. Weit entfernt ein einsamer Hügel, an dessen
Fuß der Strand endet. Ein sehr breiter Strand, seine Länge ist exzeptionell.
Sträucher, Büsche und vereinzelte Baumgruppen bieten dem Sand landeinwärts
Einhalt. Die Badenden bilden aus der Höhe bunte Punkte im gelben Sand. Die
ganze Bucht gehört den Kite-Surfern, die wie farbige Bälle auf den Wellen
hüpfen.
Die Küste ist felsig, bunte Frühlingsblumen schmücken das
kräftige Grün der Pflanzen. Dazwischen blühende Agaven. Noch gibt es Wasser
genug am Cabo de Gata. Ein weiterer Anstieg. Verwaiste Baustellen am Stadtrand,
wo weitere Appartements geplant sind. Die asphaltierte Straße endet auf einer
sandigen Piste mit Meerblick, auf der die Autos der ganz Bequemen parken, die
sich scheuen, noch den letzten Meter zu Fuß zu gehen. Sie ist nur kurz und
mündet in einen schmalen Pfad, der sich eng an die Bergflanke schmiegt, und die
motorisierten Badegäste zwingt, ihr Fahrzeug zu verlassen, weil die Natur ihnen
keine Alternative lässt. Schon jenseits der ersten Biegung öffnet sich der
Blick auf die Playa de los Genoveses.
Alles fängt immer harmlos an, bevor sich manches als
Herausforderung gebärdet. Ich bin auf einen Spaziergang durch eine
Küstenlandschaft eingestellt, auf eine geruhsame Wanderung, entlang an einsamen
Stränden. Meine Stöcke, die ich später schmerzlich vermisse, habe ich zu Hause
gelassen. Die ersten Kilometer sind flach, trocken und heiß. Der Himmel ist
wolkenlos, und ich wandere unter einem tiefblauen Tuch. Vorbei an Hunderten blühender Agaven mit verholzten Stängeln, die hoch in den Himmel ragen. Ein unvergesslicher Anblick. Wahrscheinlich unwiederholbar in meinem kurzen Leben, denn Agaven blühen in einem Zyklus, der
sich an keinem menschlichen Maß misst. Sie werden bis zu hundert Jahre alt, weshalb man sie Jahrhundertpflanze nennt. Es scheint mir, sie bewahren einen Plan aus längst
vergangener Urzeit. Erst nach Jahrzehnten, nur einmal in ihrem Leben, öffnen sie ihre Blüten. Aus der Mitte der Pflanzen, deren Blätter an dicke
fleischige Zungen erinnern, mit vereinzelten Dornen an den Rändern, wächst ein
armdicker, bis drei Meter hoher, harter und fast blattloser Schaft. Erst im
oberen Drittel dieser aufgepflanzten Lanze stehen sich gefiederte Äste
gegenüber, zymöse, verzweigte Teilblütenstände mit kurz gestielten Blüten, beweglichen Staubbeuteln an den Staubblättern, die aus lauter gleichgestalteten Blättern bestehen. Erst ganz oben öffnen sie ihre Blüten und überlassen ihre Samen dem Wind, der sie weit hinaus trägt. Sind die Blüten leer geweht, fallen die Stängel, ihrer Aufgabe entledigt, zu Boden. Skurrile Blüten an einem gefiederten Baum. Pflanzen, die an
urzeitliche Regenwälder erinnern, durch die Saurier streifen. Am Cabo de Gata
stehen die Agavendickichte auf dem Trockenen, von der Zeit vergessen. Agaven
gehören zweifellos zu den Freaks unter den Pflanzen. Konkurrenzlos wachsen sie
im Sand, umgeben vom zarten Frühlingsgrün auf fast vegetationsfreien Berghängen, umgeben von gelben und violetten Blüten in Nischen im steinigen Boden; gelegentlich
blüht roter Mohn.
Ahnungslos was vor mir liegt, erreiche ich die abgelegene Playa de Mónsul, eine Bucht zwischen kahlen Dünen und schroffen Felsformationen; in deren Stein haben Wind, Sonne und Regen, die Werkzeuge der Erosion, skurrile Höhlen gefräst. Der Weg hat sich mittlerweile aufgelöst. Er mündet in eine sandige Ebene, die sich entfernt am Strand verliert. Ein grüner Hauch bedeckt den Boden, vereinzelt buschige Sträucher, runde grüne Flecken. Sie wirken nur lose mit dem Boden verbunden, als ob der nächste Sturm sie leicht verwehen kann. Eine Landschaft, die unter den Füßen staubt wie eine Savanne in der Trockenzeit. An die Wand eines verlassenen Hauses hat jemand das Portrait eines Hispano mit breitkrempigem Hut gesprüht: ein kantiges Gesicht mit melancholischem Blick. Ein Bauer, ein Hirte, ein Bandolero? Machismo ins Bild gesetzt und in seinen Blick gebannt. Trotzig und traurig erzählen die Augen von den Mühen der Männlichkeit, die dem Leben mehr abtrotzt, als es ihnen schenkt. Das verblasste Konterfei strahlt vor Entschlossenheit und Härte. Wer mag er sein? Hat er gelebt oder ist er der Fantasie des anonymen Künstler entsprungen? Zwischen einer flachen Düne und einer grauen Felswand gehe ich hinunter an den Strand. Gleich am Spülsaum, in den feinen Sand, duckt sich ein meterhoher, klobiger Felsbrocken wie ein großes schwarzes Tier. Ein Rest, den der letzte Vulkanausbruch hierher geschleudert hat. Seitdem formen Hitze, Wind und Wasser seine kantig löchrige Gestalt. Er wirft einen schmalen Streifen Schatten auf den Sand, in den sich ein paar Badegäste drängen. Wenige Meter weiter liegt ein großer Ast, weiß gebleicht erinnert er an Knochen oder Elfenbein; das gigantische Geweih eines längst ausgestorbenen Riesenhirsches. Sonst ist der Strand fast menschenleer. FKK, Freikörperkultur, in einer einsamen Bucht. Was ein nackter, im Sand liegender Körper mit Freiheit und Kultur zu schaffen hat, habe ich noch nie verstanden. Nacktheit hat immer noch nichts Natürliches, braucht versteckten Rückzug, vor Blicken, Verweisen und Verbotenem. Ein eigenartiger Gedanke, dass für manche Nacktheit Freiheit bedeutet. Einst war die Idee revolutionär, als Kreative und Progressive an den kleinbürgerlichen Fassaden rüttelten. Jahrzehnte später die Agitprop-Kommune 1. Ihre Galionsfiguren, Rainer Langhans und Fritz Teufel, mussten diesen Schritt noch einmal machen, um ihren prüden Zeitgenossen einen Spiegel vorzuhalten. Doch dieser Spiegel zeigte sie nur selbst. Die Fratze eines heuchlerischen Systems maskierte sich mit diesem Mummenschanz und räumte vermeintliche Freiheiten ein, die sich gut vermarkten lassen.
Ahnungslos was vor mir liegt, erreiche ich die abgelegene Playa de Mónsul, eine Bucht zwischen kahlen Dünen und schroffen Felsformationen; in deren Stein haben Wind, Sonne und Regen, die Werkzeuge der Erosion, skurrile Höhlen gefräst. Der Weg hat sich mittlerweile aufgelöst. Er mündet in eine sandige Ebene, die sich entfernt am Strand verliert. Ein grüner Hauch bedeckt den Boden, vereinzelt buschige Sträucher, runde grüne Flecken. Sie wirken nur lose mit dem Boden verbunden, als ob der nächste Sturm sie leicht verwehen kann. Eine Landschaft, die unter den Füßen staubt wie eine Savanne in der Trockenzeit. An die Wand eines verlassenen Hauses hat jemand das Portrait eines Hispano mit breitkrempigem Hut gesprüht: ein kantiges Gesicht mit melancholischem Blick. Ein Bauer, ein Hirte, ein Bandolero? Machismo ins Bild gesetzt und in seinen Blick gebannt. Trotzig und traurig erzählen die Augen von den Mühen der Männlichkeit, die dem Leben mehr abtrotzt, als es ihnen schenkt. Das verblasste Konterfei strahlt vor Entschlossenheit und Härte. Wer mag er sein? Hat er gelebt oder ist er der Fantasie des anonymen Künstler entsprungen? Zwischen einer flachen Düne und einer grauen Felswand gehe ich hinunter an den Strand. Gleich am Spülsaum, in den feinen Sand, duckt sich ein meterhoher, klobiger Felsbrocken wie ein großes schwarzes Tier. Ein Rest, den der letzte Vulkanausbruch hierher geschleudert hat. Seitdem formen Hitze, Wind und Wasser seine kantig löchrige Gestalt. Er wirft einen schmalen Streifen Schatten auf den Sand, in den sich ein paar Badegäste drängen. Wenige Meter weiter liegt ein großer Ast, weiß gebleicht erinnert er an Knochen oder Elfenbein; das gigantische Geweih eines längst ausgestorbenen Riesenhirsches. Sonst ist der Strand fast menschenleer. FKK, Freikörperkultur, in einer einsamen Bucht. Was ein nackter, im Sand liegender Körper mit Freiheit und Kultur zu schaffen hat, habe ich noch nie verstanden. Nacktheit hat immer noch nichts Natürliches, braucht versteckten Rückzug, vor Blicken, Verweisen und Verbotenem. Ein eigenartiger Gedanke, dass für manche Nacktheit Freiheit bedeutet. Einst war die Idee revolutionär, als Kreative und Progressive an den kleinbürgerlichen Fassaden rüttelten. Jahrzehnte später die Agitprop-Kommune 1. Ihre Galionsfiguren, Rainer Langhans und Fritz Teufel, mussten diesen Schritt noch einmal machen, um ihren prüden Zeitgenossen einen Spiegel vorzuhalten. Doch dieser Spiegel zeigte sie nur selbst. Die Fratze eines heuchlerischen Systems maskierte sich mit diesem Mummenschanz und räumte vermeintliche Freiheiten ein, die sich gut vermarkten lassen.
Angezogen fühle ich mich zwischen den Nackten im Schatten
des monströsen Felsens wie ein Voyeur. Es ist mühsam durch den weichen Sand zu
wandern. Jeder Schritt ist anders, kein fester Boden mehr, und der Sand unter
meinen Füßen zerfließt in jede Richtung. Nur manchmal bietet ein einzelner
Stein oder Sporn, der durch den Sand ins Freie drängt, meinem Fuß ein wenig
Halt. Ich steige die Düne hinauf, nein, das ist falsch, ich rutsche durch den
Sand, denn mit jedem Schritt vorwärts verliere gleichzeitig Zentimeter Boden.
Der Sand unter mir bleibt im Fluss, und zieht an meinen Waden. Die Düne ist ein
Hang von wenig mehr als hundert Metern. Oben bildet sie einen flachen Buckel
mit Rundumblick. Ich bin höher als erwartet, und die Nackten sind zu schmalen,
brauen Streifen im Sand geworden. Strichnackte in einem Cartoon.
Auf der anderen Seite der Düne gibt es keinen Weg
hinab ins nächste Tal. Ich habe das Weglose erreicht. Um mich herum nur Hänge,
quer zu meiner Richtung, und hintereinander aufgereiht. Aus der Distanz sehe
ich gegenüber auf dem Hang einen hellen Strich, der sich zwischen Steinen und
schütterem, kniehohem Gebüsch windet. Ein Pfad? Nur in der Ferne, der nicht an
meinen Füßen beginnt. Vor mir gähnt ein Abhang, übersät mit Pflanzen und
Steinen, zwischen denen ich mir selbst den Abstieg suchen muss. Rutschend und
stolpernd erreiche ich schließlich das Bett einer Rambla. Der Pfad, auf den ich
zugehalten habe, ist verschwunden. Aus der Nähe sehe ich überall Pfade, oder
keine. Rinnen und freie Streifen im Gelände, die keine Pflanze und noch kein
Stein erobert hat. Ich muss querfeldein, zwischen Berghänge, ohne den weiten
Blick über Felder, durch die verlässlich Pfade führen und wo die Orientierung
leichtfällt. Obwohl ich ausreichend trittsicher bin, fehlen mir meine Stöcke.
Der Sand der nächsten Düne brennt so heiß auf meinen
Sohlen, dass ich meine Schuhe anziehen muss. Wieder rutsche ich mehr hinauf,
springe von einer Pflanze, die sich mit ihren Wurzeln in den Sand krallt, zum
nächsten Stein, die immer zahlreicher aus dem Sand ragen, bis ich auf nacktem,
heißem Fels stehe. Aus einer Bucht aufgestiegen blicke ich in die nächste
hinab. Sie ist zwischen einer schroffen Steilküste aus vulkanischem Tuff und
ins Meer auslaufenden Dünen eingeklemmt. Der reine Wahnsinn. Vor mir ragt
der Morrón de los Genoveses im Wind auf und ich schaue hinunter auf
den langgestreckten Bogen der Playa de los Genoveses. Der Kreis hat
sich geschlossen. Die Brandung hat sich beruhigt. Nur flache Wellen erreichen
den Strand. Keine bunten Drachen schweben über der Bucht. Kein Kite-Surfer
reitet auf den Wellen.
Ein besonderes Erlebnis in einer unglaublichen,
ungewöhnlichen Landschaft. Vulkanisch, das Gestein schwarze Lava, scharfkantig
und in bizarren Formen erstarrt. Tuff, mal weiß, mal beige, mal grau. In diesen
Felsen ist alles Mögliche Gestein eingeschlossen und mit einander verbacken;
stellenweise ist der Felsen auch völlig nackt. In wenigen Gunsträumen klammeren
sich dornige Sträucher, deren Blätter sich ledrig anfühlen, dazwischen immer
wieder die eine oder andere gelbe oder blasslila Blüte. Über das Wasser jenseits
des Morrón de los Genoveses stürmen Poseidons schaumgekrönte Pferde
an die Klippen. Ein weißer Hund tobt in den letzten Wellen, die träge in einer
kleinen Bucht ausrollen. Ein aufgespannter Sonnenschirm verrät Badende. Alle
Strände haben diesen feinen, hellgelben Sand, und die ein Meter hohen Wellen.
Stunden später, nach einem letzten steilen Anstieg über eine schräge Ebene
nackten Felsbodens, entkomme ich dieser Wüste aus Sand und Stein. Das Wanderung
ist vorbei, und mit ihr die besonderen Augenblicke Schönheit und Erregung, die
sie mir geschenkt hat. Wie gestern stehe ich auf hoch oben auf dem Morrón de
los Genoveses, während der Wind an meinen Haaren zupft.
Gehen ist zuallererst eine körperliche Aktivität, die
sich psychisch auswirkt. Gehen heißt, durch den Körper wahrnehmen, zu spüren
und zu empfinden. Gehen fördert und schult die sinnliche Wahrnehmung, öffnet
das Bewusstsein für die Umgebung, für die Welt. Gehen ist meditativ. Dabei ist
es prinzipiell unwichtig, ob ich durch die Stadt oder über Land gehe. Darüber
entscheidet allein die individuelle Vorliebe. Es kommt darauf an, überhaupt
wieder zu gehen, nicht nur zum Parkplatz, wo das Auto wartet, oder um die Ecke
in den Laden. Die Motorisierung und Automatisierung der menschlichen Lebenswelt
benötigt das Gehen als Gegenentwurf, der ironischerweise seiner eigentlichen
Natur entspricht. Nicht selten kommt es vor, dass ich mich nach einer
gegangenen Meditation verändert fühle. Gehen ist nicht allein eine
Vorwärtsbewegung durch den Raum, gehen verändert den Verlauf der Zeit. Gehen
führt den Fußgänger wieder zu sich selbst zurück. Bewusstes Gehen ist Yoga, ist
atmen, ist Rhythmus, ist Arbeit, ist spüren, ist fühlen, ist Leben. Gehen ist
Öffnung zur Welt. Es versetzt den Menschen zurück in das glückselige Gefühl
seiner Existenz. Meine langsame Bewegung im Raum und in der Zeit ist eine Fußreise,
eine Bezeichnung, die nichts in Zweifel zieht, und ausdrückt, um was es geht.
Tagelanges Gehen verändert die physische und psychische Konstitution, schärft
das Bewusstsein dafür in sich selbst zuhause zu sein. Gehen fördert, richtig
betrieben, das Bedürfnis weiter zu gehen. Nur die körperliche Kondition setzt
die individuelle Grenze. Eine Grenze für die Gefühle und die psychische
Befindlichkeit gibt es nicht. Die anhaltende, gleichmäßige Bewegung des Gehens
bringt mich in intensiven Kontakt mit mir in einer natürlichen Umgebung. Ich
kann die unterschiedlichen Stimmungen, Nuancen und Färbungen der Umgebung um
mich herum spüren, Wind und Sonne auf meiner Haut, die Feuchtigkeit, die nach
dem Regen in der Luft liegt. Ich rieche ihren Duft und ihr Aroma, höre ihre
Geräusche, den Wind in den Blättern, das Murmeln des Bachs, das Summen von
Insekten und das Zwitschern der Vögel. Was ich sehe, wenn ich mich umschaue,
ist das Land in seiner Mannigfaltigkeit von Tälern und Bergen, Flüssen und
Seen, Wiesen, Feldern und Wäldern, durchzogen von Pfaden, Wegen und Straßen,
die ich gehen kann; immer in der richtigen Mischung. Alles zusammen verschmilzt
in mir zur Stille der Achtsamkeit. Wer wissen will, was Glück bedeutet, muss
sich auf die Füße machen, muss wieder beginnen zu gehen, am besten dort, wo die
Konfrontation mit der Natur zu einer Begegnung mit der eigenen Identität wird.
Die Konzentration auf das Wesentliche in der physischen Anstrengung der
Bewegung, das Ausgesetztsein in Unsicherheit und Fremdheit, führt zu einer
neuen Selbstwahrnehmung und Selbstvergewisserung. Das Loslassen des Vertrauten
als Folge des Aufbruchs besitzt eine heilsame Qualität für das Selbst, die
nirgendwo anders zu finden ist.
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