Da draußen aber gibt es unerforschte
Wunder –
Wunder, die darauf warten, daß der rechte
Mann
alles aufs Spiel setzt, sie zu
entdecken.
T. Coraghessan Boyle
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Ich wollte nach Isleta del Moro gehen, aber zwanzig
Kilometer sind mir heute zu weit. Die Wanderung von gestern sitzt noch in
meinen Muskeln. Über Land nach Pozo las Fraillas zu gehen, reizt mich nicht.
Ich will etwas mit Strand, etwas Kleines eher Müheloses, wenn es solche
Wanderungen gibt. Ein Spaziergang vielleicht. Nachdem mir meine Wanderung zur
Playa de Genovéses und auf den Morrón de los Genoveses gefallen hat, wähle ich
aufs Geradewohl eine kleine Bucht nördlich von San José aus: die Cala Higuera.
Ihr Name erinnert mich an den Fluss, durch den ich vor ein paar Wochen
gewandert bin.
Einfach losgehen! Ohne Plan! Karten gibt es keine;
nur Beschreibungen auf Spanisch, die ich nicht immer gut genug verstehe. Die
Straße der Wellen, die Calle las Olas, führt bergauf aus San José. Ein Name,
der mich lockt. Ein anderer, schmaler Maultierpfad versteckt sich hinter einer
Häuserzeile. Überwachsen und steinig klettert er an einer Bergflanke hoch und
kommt über dem Yachthafen wieder ins Freie. Nur 108 Meter ist er hoch, der
Cerro de Enmedio, der Hügel dazwischen, der über San José aufragt. Dazwischen?
Niemand kann mir erklären, warum er so heißt, doch sein Kegel, der die Szenerie
beherrscht, taugt zu einem Wahrzeichen. Es geht nur kurz steil hinauf, dann
steil hinunter, auf Stufen im Fels, ein Werk der nie ruhenden Erosion. Der
Wind, die Hitze, das Wasser, das in die Spalten und ins Gestein dringt. Mehr
braucht es nicht, um den Berg zu formen. Der Pfad schlägt einen Bogen und San
José verschwindet hinter dem Hügel. Jetzt bin ich dazwischen, und stehe
freihändig auf der steilen Flanke des Cerro de Enmedio. Der Wind, der mich auf
der anderen Seite des Hügels empfängt, weht heftig. Festhalten kann ich mich
nirgendwo, denn es gibt nichts, was über meine Knie hinausragt. Also stemme ich
mich in den Wind, schlagseitig gegen den Fels gelehnt. Links von mir stürzt die
Flanke steil ins Meer. Tief unten tobt sich die Brandung in den Klippen aus.
Der Pfad windet sich über nackten Fels. Pflanzen gibt es kaum. Den einen oder
anderen kümmerlichen Strauch, der mir nur bis an die Wade reicht. Dornig, mit
ledrigen Blättern. Ein paar gelbe Blüten, die sich schützend an die Steine
klammern, verraten mir, dass Frühling ist. Zwischen dem Aufbruch aus dem
Vertrauten und der Hoffnung, irgendwo anders anzukommen, liegt die Liminalität
des Dazwischen. Der Sehnsuchtsort, das Reich des Reisenden. Ich habe mich um
die Flanke des Hügel geschoben, dem Wind zum Trotz. Schließlich endet der Trampelpfad
auf einer staubigen Piste. Unterwegs begegnet ist mir niemand. Er hält auf eine
Bar mit einem vielversprechenden Namen zu: El Refugio. Eine ältere Frau
sagt: Cerrado, geschlossen, und: Doce, zwölf! Derweil fegt
sie unverdrossen die Terrasse. Den Weg in die Bucht kennt sie nicht, obwohl der
gleich hinter der Bar nach unten führt. Querfeldein steige ich durch sprödes
Gras an den Strand hinab.
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Die Bucht ist eine Ansammlung von Steinen, rund
geschliffene Kiesel; groß wie Murmeln, eine Faust, ein Kopf. Nicht der feine
Sand, den ich erwartet habe. Nicht die lauschige Atmosphäre im Schutz der
Steilküste, die Symphonie des Meeres, die an schwarzen Felsen widerhallt.
Kantige Felsbrocken, rote Brekzien, sind von einem niedrigen Felsen
abgebrochen, der sich zwei Meter hoch hinter mir erhebt. Die spitzen, kantigen Brocken
laden kaum zum Verweilen ein, um dem Spiel der Wellen, die gelangweilt an den
Strand stolpern, zu lauschen. Am Ende der kleinen Bucht eine senkrecht fallende
Felsenwand, die den Strand in Schatten taucht. Möwen im Aufwind. Raben der
Meere nennt sie Brehms Tierleben: Sie liegen leicht wie Schaumbälle auf
den Wogen und stechen durch ihre blendenden Farben von diesem so lieblich ab,
dass sie dem Meer zum wahren Schmucke werden. Stundenlang kann ich ihrem
Flug folgen, ohne mich zu langweilen. Selbst landeinwärts sind Möwen ein
Versprechen, dass die Küste nie weit ist. Das Kreischen der Vögel - Kek, Kriäh,
Kerreckeckeeck - ihr eleganter Flug, ihre sanften Kurven auf der Grenze von
Land und Meer. Sie segeln im Dazwischen, auf und ab, die strahlend weißen
Meister der Aerodynamik, Beherrscher der Strömungen der Luft. Sie schweben
gelassen über mir, ihre langen schmalen Flügel weit ausgebreitet, weiße Schemen
vor Himmelblau. Gedanken und Erinnerungen an die Tätowierungen der Matrosen, an
die Möwe Jonathan Livingston Seagull, von der Richard Bach in
seinem Roman von 1970 erzählt. Eine Möwe, die sich den Zwängen und Konventionen
ihrer Kolonie widersetzt. Sie wird ausgestoßen, welch ein Glück für sie, und
gewinnt eine grenzenlose Freiheit. Es ist kein Hippie-Kitsch, wenn jemand
aufbricht, um seinen eigenen Weg zu suchen. Für die Indianer Nordamerikas war
die Möwe schon lange vor Jonathans Metamorphose der Inbegriff von
Unabhängigkeit und Freiheit. Möwen werden alt; manche älter als dreißig Jahre.
In der Nähe von Gewässern findet man sie jetzt auch in den Städten, auf Inseln
im Häusermeer. Ihr Lebensraum, der Ozean verändert sich durch industrielle
Überfischung. Immer weniger Kutter, die sie begleiten können, die ihnen reiche
Beute sichern, fahren zum Fang hinaus aufs Meer. Gibt es ihn noch: den Beruf
des selbständigen Fischers? Offene Müllhalden, eine weitere Nahrungsquelle,
verschwinden aus der Landschaft. Mittlerweile sind die Möwen in den Städten
angekommen, konkurrieren mit den Tauben, den fliegenden Ratten, um Nahrung. Sie
haben ihre Scheu vor den Menschen verloren. Gelassen steht eine Möwe auf dem Bahnsteig
des Bushofs in Cádiz, unerschütterlich und dreist, als stünde es ihr zu, dort
zuhause zu sein. Vor den Passanten weicht sie widerwillig, kaum einen Schritt
zur Seite, als sei ihre Präsenz eine Zumutung. Sie lauert auf Essbares, denn
sie hat gelernt, dass die Menschen meist irgendetwas Essbares fortwerfen. Doch
die fühlen sich belästigt, wenn Möwen sie bedrängen, obwohl sie sie füttern.
Jonathans Möwenromantik ist eine Illusion. Dieser strebt nach Perfektion im
Fliegen, weshalb ihn die anderen Möwen ausgrenzen. Seine Artgenossen
beschränkten sich mit mittelmäßigen Flügen zur Futtersuche. Sie fliegen, um zu
leben. Jonathan will leben, um zu fliegen. In Ballad of a Crystal Man hinterfragt
Donovan die Sinnhaftigkeit eines individualistisches Ausstiegs aus einer
unfreien Gesellschaft: Your thoughts they are of harlequin, your speeches of
quicksilver, I read your faces like a poem, kaleidoscope of hate words. For
seagull I don't want your wings, I don't want your freedom in a lie.
Die Cala Higuera bietet eine unspektakuläre Szenerie, kaum
eine Bucht zu nennen. Aber der Himmel ist tiefblau und ich döse
gedankenverloren in der Sonne. Jemand hat ihm flüchtige Cirren aufs Kleid
gesprüht. Der Sound der Brandung, ein leises Plätschern. Unermütlich rollen
flache Wellen an Strand, zu schwach, um die kiesige Mischung zu bewegen. Ein
schwarzer Hund schnüffelt zwischen Steinen, findet aber nichts Essbares.
Glücklose Angler harren auf ihrer steinigen Lauer aus, bunte Flecken vor der
schwarzen Felswand. Gelegentlich bewegt einer von ihnen seine Angel,
kontrolliert den Köder und wirft sie mit Schwung im Bogen zurück ins Meer,
während die Möwen über ihm ihre Kreise ziehen. Dann versinkt er erneut ins
Warten. Sein Kumpel leert inzwischen eine Flasche Bier und wirft sie, ausgetrunken,
in einen Korb. Ein Kutter hat ein Schleppnetz quer zur Bucht gespannt, dessen
gelbe Bojen träge zur Dünung schaukeln. Eine Familie badet auf Liegestühlen in
der Sonne, während ihre kleine Tochter nackt in Wasser planscht. Es ist warm.
Das Meer glitzert in der Sonne wie ein Sternenhimmel. Ich döse weiter, versinke
in dieser angenehm einlullenden Atmosphäre eines müßigen Nachmittags am Meer.
Bilder anderer Strände ziehen als Fata Morgana vorbei. Das türkise Meer, das
Licht und die Sonne, die ein Funkeln auf das Wasser zaubert, vertreiben jeden
Schmerz.
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Das Refugium ist mittlerweile geöffnet, der Blick
hinaus aufs Meer, die Atmosphäre und das Angebot erfreulich. Die Musiker präsentieren
ihr Programm erst am Abend. Auf dem Rückweg habe ich den Wind im Rücken.
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