Montag, 27. April 2020

Cala Higuera

 


Da draußen aber gibt es unerforschte Wunder –

Wunder, die darauf warten, daß der rechte Mann

 alles aufs Spiel setzt, sie zu entdecken. 

T. Coraghessan Boyle

 


Ich wollte nach Isleta del Moro gehen, aber zwanzig Kilometer sind mir heute zu weit. Die Wanderung von gestern sitzt noch in meinen Muskeln. Über Land nach Pozo las Fraillas zu gehen, reizt mich nicht. Ich will etwas mit Strand, etwas Kleines eher Müheloses, wenn es solche Wanderungen gibt. Ein Spaziergang vielleicht. Nachdem mir meine Wanderung zur Playa de Genovéses und auf den Morrón de los Genoveses gefallen hat, wähle ich aufs Geradewohl eine kleine Bucht nördlich von San José aus: die Cala Higuera. Ihr Name erinnert mich an den Fluss, durch den ich vor ein paar Wochen gewandert bin.

 


Einfach losgehen! Ohne Plan! Karten gibt es keine; nur Beschreibungen auf Spanisch, die ich nicht immer gut genug verstehe. Die Straße der Wellen, die Calle las Olas, führt bergauf aus San José. Ein Name, der mich lockt. Ein anderer, schmaler Maultierpfad versteckt sich hinter einer Häuserzeile. Überwachsen und steinig klettert er an einer Bergflanke hoch und kommt über dem Yachthafen wieder ins Freie. Nur 108 Meter ist er hoch, der Cerro de Enmedio, der Hügel dazwischen, der über San José aufragt. Dazwischen? Niemand kann mir erklären, warum er so heißt, doch sein Kegel, der die Szenerie beherrscht, taugt zu einem Wahrzeichen. Es geht nur kurz steil hinauf, dann steil hinunter, auf Stufen im Fels, ein Werk der nie ruhenden Erosion. Der Wind, die Hitze, das Wasser, das in die Spalten und ins Gestein dringt. Mehr braucht es nicht, um den Berg zu formen. Der Pfad schlägt einen Bogen und San José verschwindet hinter dem Hügel. Jetzt bin ich dazwischen, und stehe freihändig auf der steilen Flanke des Cerro de Enmedio. Der Wind, der mich auf der anderen Seite des Hügels empfängt, weht heftig. Festhalten kann ich mich nirgendwo, denn es gibt nichts, was über meine Knie hinausragt. Also stemme ich mich in den Wind, schlagseitig gegen den Fels gelehnt. Links von mir stürzt die Flanke steil ins Meer. Tief unten tobt sich die Brandung in den Klippen aus. Der Pfad windet sich über nackten Fels. Pflanzen gibt es kaum. Den einen oder anderen kümmerlichen Strauch, der mir nur bis an die Wade reicht. Dornig, mit ledrigen Blättern. Ein paar gelbe Blüten, die sich schützend an die Steine klammern, verraten mir, dass Frühling ist. Zwischen dem Aufbruch aus dem Vertrauten und der Hoffnung, irgendwo anders anzukommen, liegt die Liminalität des Dazwischen. Der Sehnsuchtsort, das Reich des Reisenden. Ich habe mich um die Flanke des Hügel geschoben, dem Wind zum Trotz. Schließlich endet der Trampelpfad auf einer staubigen Piste. Unterwegs begegnet ist mir niemand. Er hält auf eine Bar mit einem vielversprechenden Namen zu: El Refugio. Eine ältere Frau sagt: Cerrado, geschlossen, und: Doce, zwölf! Derweil fegt sie unverdrossen die Terrasse. Den Weg in die Bucht kennt sie nicht, obwohl der gleich hinter der Bar nach unten führt. Querfeldein steige ich durch sprödes Gras an den Strand hinab.

 


Die Bucht ist eine Ansammlung von Steinen, rund geschliffene Kiesel; groß wie Murmeln, eine Faust, ein Kopf. Nicht der feine Sand, den ich erwartet habe. Nicht die lauschige Atmosphäre im Schutz der Steilküste, die Symphonie des Meeres, die an schwarzen Felsen widerhallt. Kantige Felsbrocken, rote Brekzien, sind von einem niedrigen Felsen abgebrochen, der sich zwei Meter hoch hinter mir erhebt. Die spitzen, kantigen Brocken laden kaum zum Verweilen ein, um dem Spiel der Wellen, die gelangweilt an den Strand stolpern, zu lauschen. Am Ende der kleinen Bucht eine senkrecht fallende Felsenwand, die den Strand in Schatten taucht. Möwen im Aufwind. Raben der Meere nennt sie Brehms Tierleben: Sie liegen leicht wie Schaumbälle auf den Wogen und stechen durch ihre blendenden Farben von diesem so lieblich ab, dass sie dem Meer zum wahren Schmucke werden. Stundenlang kann ich ihrem Flug folgen, ohne mich zu langweilen. Selbst landeinwärts sind Möwen ein Versprechen, dass die Küste nie weit ist. Das Kreischen der Vögel - Kek, Kriäh, Kerreckeckeeck - ihr eleganter Flug, ihre sanften Kurven auf der Grenze von Land und Meer. Sie segeln im Dazwischen, auf und ab, die strahlend weißen Meister der Aerodynamik, Beherrscher der Strömungen der Luft. Sie schweben gelassen über mir, ihre langen schmalen Flügel weit ausgebreitet, weiße Schemen vor Himmelblau. Gedanken und Erinnerungen an die Tätowierungen der Matrosen, an die Möwe Jonathan Livingston Seagull, von der Richard Bach in seinem Roman von 1970 erzählt. Eine Möwe, die sich den Zwängen und Konventionen ihrer Kolonie widersetzt. Sie wird ausgestoßen, welch ein Glück für sie, und gewinnt eine grenzenlose Freiheit. Es ist kein Hippie-Kitsch, wenn jemand aufbricht, um seinen eigenen Weg zu suchen. Für die Indianer Nordamerikas war die Möwe schon lange vor Jonathans Metamorphose der Inbegriff von Unabhängigkeit und Freiheit. Möwen werden alt; manche älter als dreißig Jahre. In der Nähe von Gewässern findet man sie jetzt auch in den Städten, auf Inseln im Häusermeer. Ihr Lebensraum, der Ozean verändert sich durch industrielle Überfischung. Immer weniger Kutter, die sie begleiten können, die ihnen reiche Beute sichern, fahren zum Fang hinaus aufs Meer. Gibt es ihn noch: den Beruf des selbständigen Fischers? Offene Müllhalden, eine weitere Nahrungsquelle, verschwinden aus der Landschaft. Mittlerweile sind die Möwen in den Städten angekommen, konkurrieren mit den Tauben, den fliegenden Ratten, um Nahrung. Sie haben ihre Scheu vor den Menschen verloren. Gelassen steht eine Möwe auf dem Bahnsteig des Bushofs in Cádiz, unerschütterlich und dreist, als stünde es ihr zu, dort zuhause zu sein. Vor den Passanten weicht sie widerwillig, kaum einen Schritt zur Seite, als sei ihre Präsenz eine Zumutung. Sie lauert auf Essbares, denn sie hat gelernt, dass die Menschen meist irgendetwas Essbares fortwerfen. Doch die fühlen sich belästigt, wenn Möwen sie bedrängen, obwohl sie sie füttern. Jonathans Möwenromantik ist eine Illusion. Dieser strebt nach Perfektion im Fliegen, weshalb ihn die anderen Möwen ausgrenzen. Seine Artgenossen beschränkten sich mit mittelmäßigen Flügen zur Futtersuche. Sie fliegen, um zu leben. Jonathan will leben, um zu fliegen. In Ballad of a Crystal Man hinterfragt Donovan die Sinnhaftigkeit eines individualistisches Ausstiegs aus einer unfreien Gesellschaft: Your thoughts they are of harlequin, your speeches of quicksilver, I read your faces like a poem, kaleidoscope of hate words. For seagull I don't want your wings, I don't want your freedom in a lie.

Die Cala Higuera bietet eine unspektakuläre Szenerie, kaum eine Bucht zu nennen. Aber der Himmel ist tiefblau und ich döse gedankenverloren in der Sonne. Jemand hat ihm flüchtige Cirren aufs Kleid gesprüht. Der Sound der Brandung, ein leises Plätschern. Unermütlich rollen flache Wellen an Strand, zu schwach, um die kiesige Mischung zu bewegen. Ein schwarzer Hund schnüffelt zwischen Steinen, findet aber nichts Essbares. Glücklose Angler harren auf ihrer steinigen Lauer aus, bunte Flecken vor der schwarzen Felswand. Gelegentlich bewegt einer von ihnen seine Angel, kontrolliert den Köder und wirft sie mit Schwung im Bogen zurück ins Meer, während die Möwen über ihm ihre Kreise ziehen. Dann versinkt er erneut ins Warten. Sein Kumpel leert inzwischen eine Flasche Bier und wirft sie, ausgetrunken, in einen Korb. Ein Kutter hat ein Schleppnetz quer zur Bucht gespannt, dessen gelbe Bojen träge zur Dünung schaukeln. Eine Familie badet auf Liegestühlen in der Sonne, während ihre kleine Tochter nackt in Wasser planscht. Es ist warm. Das Meer glitzert in der Sonne wie ein Sternenhimmel. Ich döse weiter, versinke in dieser angenehm einlullenden Atmosphäre eines müßigen Nachmittags am Meer. Bilder anderer Strände ziehen als Fata Morgana vorbei. Das türkise Meer, das Licht und die Sonne, die ein Funkeln auf das Wasser zaubert, vertreiben jeden Schmerz.

 


Das Refugium ist mittlerweile geöffnet, der Blick hinaus aufs Meer, die Atmosphäre und das Angebot erfreulich. Die Musiker präsentieren ihr Programm erst am Abend. Auf dem Rückweg habe ich den Wind im Rücken.



Copyright 2020. All Rights Reserved (Texte und Fotografien)
Texte und Fotografien des Weblogs Wanderungen in Andalusien sind geistiges Eigentum des Autors und urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalte dürfen nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jegliche unautorisierte und gewerbliche Nutzung ist untersagt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen