The road goes ever on and on
Down from the door where it began
But far ahead the road has gone
And I must follow if I can
John Ronald Reuel Tolkien
Ein Reisetag ist kein Ruhetag. Überall hin fahren
Busse, aber nicht jede Verbindung führt ohne Unterbrechung ans Ziel. Dann heißt
es, sich in Geduld üben, zu warten, sich auf irgendeinem Bushof die Zeit zu
vertreiben. Es wird eine umständliche Reise in das nur zwölf Kilometer von
Nerja entfernte Cómpeta. Ich muss fast zurück nach Málaga, nach Torre del Mar;
dann quer durch den Ort den Bushof wechseln. Schon am Morgen hat der Himmel mit
Regen gedroht. Jetzt gießt es in Strömen. Mir ist kalt. Ich habe alle Kleidung
aus dem Rucksack übereinander angezogen. Trotzdem wird mir nicht warm. Milchkaffee
und in Schinken gerollte, heiße Datteln helfen ein wenig. In der Bar ist es
zugig, und die Wärme des heißen, belebenden Kaffees verfliegt schnell. Irgendwann
zieht der Regen weiter und lässt nur kühle Luft zurück. Schüchtern sucht die
Sonne eine Lücke zwischen den abziehenden Wolken.
Nach Cómpeta geht hoch hinauf in die Berge. Der
Küstenstreifen an der Costa del Sol ist nur schmal. An manchen Stellen reicht
das Mittelgebirge bis ans Meer, das sich an seiner Basis austobt. Die
Landschaft, durch die sich der Bus die enge Straße hinaufwindet, wird von
grünen Hängen bestimmt, auf denen die gelben Blüten des Ginsters die Herrschaft
übernommen haben. Überall dazwischen graue Flecken, nackter Kalkstein, den der
gelbgrüne Teppich mühsam bedeckt. Aus der Ferne, durch das Busfenster
betrachtet, eine pointillistische Idylle, in der nur die Schafe und Ziegen
fehlen. Kein Barock oder Biedermeier, kein Flöte spielender Hirte, keine
badende Nymphe, keine Herde, nicht einmal ein Maultier. Kein Laut. Nichts,
außer dem Brummen des Motors, der sich aufwärts müht. Nichts bewegt sich auf
den Hängen. Mittagsstille! Zwischen den Bergen öffnen sich Lücken, durch die
ich hinunter auf das schaumgekrönte, blaue Mittelmeer blicken kann. Auf den
Kämmen und Kuppen dieser wild-romantischen Bergkulisse strahlen weiße Dörfer in
der Sonne, wenn die einmal die Wolkendecke durchbricht. Vage Silhouetten nur,
weit entfernte weiße Streifen zwischen den grünen Hügeln. Sie sind eine
Reflexion, der Widerschein ihrer aquatischen Schwester. Eine Landschaft für
Schäfer und Wanderer. Ein Rückzugsort. Noch Jahre nach Francos Machtergreifung
hat die antifaschistische Guerilla in diesen Bergen erbittert gegen das
totalitäre Regime gekämpft. David Baird erinnert in seiner Erzählung Between
Two Fires an diese Guerilla und setzt ihnen ein literarisches Denkmal.
Die Sierras zwischen Málaga und Almería sind ein wildes Land. Die wenigen
Kilometer Küste, die Costa del Sol, Costa Tropica oder Costa Almería heißen,
hat der Tourismus schon vor Jahrzehnten erobert und gezähmt. Gelangweilt
täuscht die Küste über den wahren Charakter der andalusischen Landschaft
hinweg. Schon der erste Höhenzug wirkt wie ein gigantischer Riegel, der das
Innere dem Blick entzieht. Die Küste ist die Fassade Andalusiens, das seinen
Charme verbirgt; erobert werden will. Leider auch sein Schaufenster. Jenseits
des Kamms ändert sich die Landschaft dramatisch. Kalksteingipfel und -felsen und
Gerölle in allen denkbaren Formen soweit das Auge reicht. Kaum Spuren von
Besiedlung. Einödhöfe findet man häufiger als Dörfer. Ein markanter
Kontrast: Andalusien am Meer und Andalusien in den Bergen. Cómpeta liegt im
Grenzgebiet der beiden Gebirgslandschaften La Axarquía und der Sierra de Almijara,
zwei Sierras; wörtlich Säge. Ein hübsches Wortspiel für die schroffen Berge und
Kettengebirge jenseits der Costa del Sol. 1791 Meter ragt der Gipfel des
Matalas Camas in die Höhe; ihr höchste Punkt. Tiefe Schluchten gliedern
Kalksteingebirge, wo immergrüne Macchiensträucher und Kiefernwälder die Hänge
bedecken. Im Hinterland gibt es viele Gegenden, die nur zu Fuß erreichbar sind.
Die Sierra de Almajara und der Parque National
Sierras de Tejeda, Almijara y Almaha sind ein sprödes, aber greifbares
Paradies.
Weiße Dörfer! Noch etwas, das Andalusien
repräsentiert. Auch anderswo gibt es weiße Dörfer, doch man spricht nur mit
diesem ehrfürchtigen Unterton, wenn es sich um andalusische weiße Dörfer
handelt. Ein Ton, der aufhorchen lässt. Für mich haben die Dörfer etwas
Geheimnisvolles, das an Geschichte und Geschichten denken lässt. Sie sind alt,
sie verbergen es nicht, denn ihnen hängt etwas Stolzes an. Sie gehören hierher,
keine Frage, denn ihre Präsenz ist mit dem Gelände verwachsen. Sie lösen ein
Gefühl aus, das mir bunte Bilderbögen schenkt, die mich inspirieren. Gedanken
tauchen auf, gebildet aus tausenden Splittern, die von Menschen, ihren Taten
und ihren Sehnsüchten erzählen. Die weißen Dörfer Andalusiens und ihre
Geschichte sind so sehr ein Teil der Landschaft wie es eine Stadt nie sein kann.
Cómpeta, früh am Morgen. Ein Dorf mit maurischen Wurzeln. Compita
orum, Wegkreuzung, ein Name, der auf die Römer zurückgeht. Der Ort liegt
an der Kreuzung einer alten Handelsstraße: aus Granada und den Alpujarras, aus
Torrox und Vélez-Málaga Viertausend Einwohner hat der Ort, dessen Schutzpatron
der Heilige Sebastian ist, dessen Fest das Dorf Ende Juli mit einem Jahrmarkt
feiert. Die Gassen, durch ich komme, liegen noch im Schatten. Cómpeta, eins der
malerischen Weißen Dörfer, die den Besucher schnell die Tristesse der Städte
vergessen lassen, in denen er lebt. Wahrscheinlich gibt es niemanden, der nicht
von Sehnsucht ergriffen wird, und bleiben will; bei den Feen, glücklich unter
ihrem Hügel. Doch dieser Traum platzt irgendwann, und die Realität kehrt
zurück, spätestens, wenn er wieder zu Hause ist. Dann sind es die Erinnerungen,
denen er nachspüren kann. Ich kann davon erzählen, wie es anderswo gewesen ist!
lautet sein Credo. Reisen und Schreiben gehören für mich zusammen.
Cómpeta ist ein Weißes Dorf, dass sich auf einem Berghang
niedergelassen hat. Seine Gebäude streben auf Terrassen einem tiefblauen Himmel
entgegen, an dem sich wattige Kumuluswolken versammeln. Sie schmiegen sich eng
den Kamm hinauf, fügen sich so in das natürliche Profil des Bergs ein, als ob
es nie anders gewesen ist. Strahlend weiß leuchtet der Ort in der Sonne. Weit
hinten in der Ferne, über den höchsten Bergen, deutet ein schmaler weißer
Streifen auf die Sierra Nevada hin. Schnee, der in der Sonne glänzt. Cómpeta
ist nicht immer so, daher bilde ich mir ein, willkommen zu sein. Ich steige am
Fuß des Dorfes aus dem Bus aus Torre del Mar, dort, wo eine gepflasterte Straße
auf den Hügel hinauf abbiegt. Die Straße windet sich immer steiler zur Plaza
Almijara hinauf, die von Läden und Gastronomie umgeben ist. Seit den 1960er und
1970er Jahren übernahm der Tourismus die führende Rolle in Wirtschaft der
Region. Der Dienstleistungssektor prosperierte und die Bevölkerung nahm wieder
zu, nachdem sie nicht mehr einseitig vom Weinbau abhängig war. Im Zentrum des
Orts versammeln sich die Touristen, gerade genug, und nicht zu viel, dass es
störend ist. Die barocke Iglesia de Nuestra Señora de Asunición fühlt
sich an den Rand gedrängt; innen niemand weit und breit. Die Kirche Maria
Himmelfahrt liegt auf einem Geländesporn. Von ihrer leeren Terrasse habe ich
einen weiten Blick auf die umliegende Landschaft, auf die Berge in den vielen
Grüntönen und die fast schwarzen Partien der schattigen Täler. Wer sich Cómpeta
nähert, sieht zuerst die Kirche. Ihr rotbrauner Turm ragt wie ein Minarett aus
den verschachtelten, weißen Häusern. Wie Frigiliana ist Cómpeta eine urbane
Perle in der Landschaft. Selten wird mir die Unterschiedlichkeit von Natur und
Kultur so bewusst, wie in dem Moment, als mein erster Blick hinter einer Kurve
zum ersten Mal auf Cómpeta fällt. Wer dies sieht, dem fällt es leicht, sich die
Unterschiedlichkeit der Geschlechter vorzustellen: die weichen, fließenden
Formen der Landschaft, das harte, kantige Weiß des Dorfs. Die letzten Mauren
verließen diese Berge erst Ende des 15. Jahrhunderts. Als Isabella von Kastilien
und Ferdinand von Aragon, die Katholischen Könige, Málaga zurückerobert hatten,
zog sich die islamische Bevölkerung in die schwer zugängliche Landschaft
zurück. Achthundert Jahre lebten und herrschten die Mauren in Andalusien. Wen
wundert es, dass sie zahlreiche Spuren zurückließen. Die Namen der Dörfer und
Landschaften erinnern an ihre arabischen Erbauer. Die niedrigen, dem Profil des
Geländes angepasste Struktur und Architektur der Dörfer; die gewundenen, engen
Stufengassen; die Straßen überspannenden Bögen; die kleinen Plätze; die nackten
Fassaden der nach außen abweisend wirkenden Häuser; die reich geschmückten
Innenhöfe mit ihren Blumenarrangements, Brunnen und schmiedeeiserner
Handwerkskunst. Ein Atrium für entspannte Mußestunden in schattiger Umgebung.
Ein kleiner Paradiesgarten in der Sommerhitze Andalusiens. Klimatisch war
Andalusien für die afrikanischen Eroberer vertrautes Land, das ihnen leicht zur
Heimat werden konnte. Die Hanglage der Dörfer im Schutz einer Bergflanke
erinnert bis heute an die Berber Nordafrikas.
Oberhalb von Cómpeta beginnt ein Wanderweg, der in
eine Berglandschaft führt, grau und anthrazit, schroff und kantig. Schmale,
steil verlaufende Kämme und fallende Hänge. Aus der Ferne sehen die Berge aus
wie aus Papier gefaltet. Sie gefallen sich in Distanz und Unnahbarkeit. Von
weitem betrachtet haben die Berge nichts Anziehendes. Ihre graue Schroffheit
wirkt zurückweisend. Erst mittendrin entfalten sie ihren unwiderstehlichen
Charme: zuerst das Durchqueren ihrer eng aufeinander folgenden Schluchten und
Täler, in denen sich Bäche und Flüsse aus den Hochlagen ihren Weg ins Meer bahnen,
dann der Aufstieg auf einen ihrer Gipfel mit spektakulärem Rundblick, der
Wechsel von Bergwald und Heidelandschaft, das Auf und Ab in wechselnden
Atmosphären, die seltenen gelben und violetten Blüten zwischen einem frischem
Hauch von Frühlingsgrün, wie über den steinigen Grund gesprüht.
Überlebenskünstler, die sich ihre eigenen Nischen erobert haben. Alte Passwege und Maultierpfade,
die wer weiß, welche Geschichten erzählen können. Es ist nicht allein die
Landschaft, es ist das Wissen über eine Landschaft, die ihre Eigenart ausmacht.
Die Ereignisse, die in den Jahrhunderten stattfanden, als Menschen sie
durchquerten und sich in ihnen niederließen.
Der Gipfel des über zweitausend Meter hohen La Maroma
drückt gegen die Wolken. Den ganzen Tag wandere ich in seinem Schatten. Über die
alten Pfade, die einst von Schmugglern, Banditen und Rebellen benutzt wurden.
Ich stelle mir das gerne vor, so einsam und wild erscheint mir das Land. Es ist
schwer vorstellbar, dass jemand hier entlang geht, die Mühen dieser Wege auf
sich nimmt, der nicht vor irgendetwas flieht. Wer außer Hirten und Jägern kam
hier entlang. Das Museo del Bandolero im weit entfernten Ronda erinnert
daran: an die Epoche der Bandoleros des 18. und 19. Jahrhunderts, die es idealisiert
und verherrlicht. Legenden, vermischt mit Fakten und Folklore, Taten von
Großzügigkeit und Grausamkeit. Stolze, tatkräftige Männer, denen ihre Freiheit
über alles ging: El Bandido Generoso, El Pernales, Pasos Largos, El Vivillo, El
Tragabuches und El Tempranillo. Männer, die ihre Eigennamen abgelegt haben und
nach ihrem Charakter benannt wurden. El Zorro, der literarische Archetypus,
repräsentiert dieses Bild. Er ist ein Held jenseits der Anfechtungen eines
Lebens unter feudalen Bedingungen, der spanische Robin Hood, der von den
Reichen nahm und den Armen gab, ein Kämpfer gegen Unrecht, Unterdrückung und
Ausbeutung, ein Guerillero und ein Terrorist, ein Dieb, Mörder und Erpresser,
ein Verteidiger von Freiheit und Gerechtigkeit. Kaum vorstellbar, dass ein
einziger Mensch diese Spannungen und Widersprüche aushalten kann. Die Pfade
durch diese Berge sind alt. Sie waren vergessen, bevor die Wanderer sie
wiederentdeckten. Die größte Population des iberischen Steinbock hat sich in
diese Berglandschaft zurückgezogen. Gesehen habe ich keinen einzigen dieser
genügsamen Kletterer, die im astrologischen Tierkreis Würde und Ausdauer
symbolisieren. Vermutlich wird er sich allmählich wieder erholen, denn sein
Bestand war durch die heftige Bejagung stark geschrumpft, sodass die gesamte
Art gefährdet schien. Anders als sein Verwandter in den Pyrenäen hat sich der
Iberiensteinbock jedoch inzwischen erholt. In Andalusien leben wieder dreitausend
Individuen, streng geschützt, da sein Überleben noch nicht gesichert ist.
Ich verlasse Cómpeta früh morgens. Die engen, schattigen Gassen, durch
ich komme, liegen noch im Schatten und schnell
hinter mir. Ich stehe auf der Plaza de Vendimia in der warmen Morgensonne. Die
jährliche Traubenernte, vendimia, bildet eine wichtige Zäsur im
landwirtschaftlichen Zyklus der Region. La Noche del Vino eröffnet
jährlich die Erntesaison mit einem Unterhaltungsprogramm, freiem Essen und
Wein, Flamencoaufführungen und Wettbewerben, bei denen der Saft der
Muskateller-Trauben mit bloßen Füßen ausgepresst wird. Lange Zeit war der
Weinbau der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Die Schicksalsschläge des 19.
Jahrhunderts, als die Rosinenpreise durch Billigimporte aus Kalifornien den
Weltmarkt überschwemmten und die Reblaus den Weinanbau ruinierte, gehören der
Vergangenheit an.
Ich folge der schattenlosen Asphaltstraße weiter hinauf, an
den Dorfrand und in den Wald hinein. Der Weg ist in lange Schatten getaucht,
die nur gelegentlich von der Sonne besiegt werden. Doch kaum ist sie
ausgesperrt, wird es kühl. Das Profil der Berglandschaft unterscheidet sich
kaum von meinen Wanderungen in der Axarquía. Fast zweitausend Meter hohe Berge,
die von engen, V-förmigen Tälern gegliedert werden. Ich komme nur mühsam nach
oben, so steil steigt der Pfad an. Auf den Gipfel oder einem Kamm angekommen,
geht es sofort wieder hinab, gleich hinauf auf den nächsten Pass. Der Weg
hinunter ins Tal fällt so steil ab, dass ich nicht gehen kann, sondern im
Laufschritt abwärts muss. Die steilen, steinigen Pfade sind kaum einen halben
Meter breit, führen eng am Berg vorbei. Auf beiden Seiten steile Hänge, auf
denen alle möglichen Sträucher und Bäume wachsen. Manchmal auch senkrechte
Felswände. Es ist eine anstrengende Kletterei über Felsen, Geröll und kantigen
Kalkstein. Doch bin ich erst oben, mit dem weiten Blick über die Welt,
überkommt mich jedes Mal ein Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung. Es gibt
nichts Vergleichbares, nichts, das Berauschender ist. Ich verstehe Goethe, und die
Dichter und Philosophen der Romantik, die das Wandern entdeckt haben. Wenn ich
auf dem Gipfel stehe und in die Welt hinausschaue, den blauen, grenzenlos
scheinenden Himmel über mir, werden meine Gedanken und Gefühle poetisch. Wäre
ich nicht so sehr mit Wahrnehmen und Spüren beschäftigt, ich würde dichten.
Am nächsten
Tag bin ich wieder unterwegs. Es fällt mir schwer, in dieser Landschaft ruhig
zu Hause zu bleiben. Ich gehe hinauf nach Canillas de Albaida, die Weiße, der weiß getünchten Häuser wegen. Ein im 13. Jahrhundert gegründetes, maurisches Dorf,
denn albaida heißt die weiße Farbe im Arabischen. Das Dorf liegt nordöstlich von Cómpeta, am Fuß der Sierras de Tejada y Almijara in einem Tal, das von den Flüssen Cájula und Turvilla geprägt wird. Noch ein Name, der alles
Mögliche verheißt, ohne dass ich es fassen kann. Die maurischen Ortsnamen, die
trotz Reconquista, Massakern, Vertreibung und katholischer Missionierung wie
selbstverständlich im Spanischen erhalten blieben, üben einen eigenartigen Zauber
auf mich aus. Namen, die ein Geheimnis tragen, das ich wissen will: politisch,
militärisch, narrativ. Sie klingen nach Geschichte, nach Sagen und Legenden,
und nach Märchen. Sie beschwören Begebenheiten, die sich einst zutrugen. Heutzutage
führen die Dörfer in den Bergen eine geruhsame Existenz. Dörfer auf dem
Altenteil. Und trotzdem flüstern sie mir noch immer zu, wenn ich durch ihre
Gassen streife. Ich muss hingehen, ohne besondere Absicht oder Erwartung,
einfach nur um nachzusehen, was dort zu finden ist. Ob sich mehr hinter diesen
Namen verbirgt als die nüchterne Oberfläche der Architektur.
Das Dorf scheint
ausgestorben als ich ankomme. Es ist früh am Morgen, und noch lange nicht
Siesta. Die Gassen, die sich am Hang entlang schlängeln, auf und ab, liegen
verlassen. Nur die Kübel und Töpfe mit blühenden Blumen vor den Eingängen oder
auf den Fensterbänken, eine blühende Kletterpflanze die an einer Pergola in die
Höhe strebt. Die kleine Plaza, ein langes, schmales Rechteck, an der hoch
aufragenden Iglesia de Nuestra Señora de la Expectación, ist von eingeschossigen
Wohnhäusern umgeben, die eng an sie gerückt sind, sodass der Platz nicht mehr
als ein erweiterter Gang ist. Vor einer Bar stehen Tische und Stühle. Zwei
Besucher sitzen unter einem Sonnenschirm, vertieft über eine Karte, und trinken
Kaffee. Sonst niemand. Ich bin nicht sicher, ob die Bar, trotz der offenen Tür,
nicht doch geschlossen ist. Hinter dem Tresen putzt eine ältere Señora Gläser. Im Halbdunkel der engen Bar wirkt sie deplatziert in ihrem eleganten,
roten Kleid. Erfreut, mich zu sehen, scheint sie nicht, doch einen Kaffee macht
sie mir. Die Plaza liegt halb im Schatten, die Sonne hat es noch nicht über das
hölzerne Kirchendach mit dem Turm geschafft. Sie fühlt sich unbehaglich an, die
Stille und die Distanz, in die sich drei Menschen gehüllt haben, die Frau in
der Bar und die beiden Kartenleser. Im kühlen Schatten vor der Kirche empfinde
ich Canillas de Albaida ablehnend und ungastlich. Ich bin nicht länger
neugierig auf die Geister, die in ihren Nischen und Winkeln hausen.
Ich mache
mich schnell auf den Weg, zurück an den Dorfrand. Über unregelmäßige, steinige
Stufen führt eine Serpentine an der Flanke des Bergs hinab, ein inoffizieller
Pfad, ein Wunschweg, eine Abkürzung, die Menschen gern ins Gelände treten. Über
mir auf dem Berg thront das Dorf in der Morgensonne, während ich hinunter ins
Tal des Río Cájula stolpere, eine Hand an einem Holzgeländer, das wenig Stabilität
verspricht. Unten schmiegt sich eine asphaltiere Landstraße an das Bett des
kleinen Flusses. Ein Stück flussaufwärts steht eine Mühle, an
der eine Brücke über den Fluss führt. Auf der rechten Uferböschung beginnt ein schmaler
Pfad, der den Fluss immer wieder kreuzt. Ich wandere unter rosa blühendem
Oleander, vorbei an Orangen und Avocadobäumen, die ihre Früchte feilbieten. Der
Pfad ist schmal, kaum einen Fuß breit, und verliert sich immer wieder im Gras.
Einige hundert Meter in das Flusstal, zwischen und unter die Büsche, und ich
bin allein mit dem Plätschern und Gurgeln des Wassers. Es gibt wenig
Angenehmeres und Entspannenderes als an einem warmen Tag am Ufer eines kleinen
Flusses entlang zu wandern, und alle Zeit der Welt zu haben, in einer
Atmosphäre, in der es mir leicht fällt, mich mir selbst, meinen Empfindungen
und Gedanken zu überlassen. Nach einem steilen Aufstieg durch schulterhohes
Gestrüpp stehe ich gegenüber auf dem nächsten Hügel, die bewaldeten Hänge der Sierra de Tejeda zu
Füßen. Zu Fuß durch eine solche Landschaft zu gehen, in sie einzutauchen, und
sie eigenen Leib zu spüren, ist Mittel und Zweck, Reise und Ziel.
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