Das «panoramische Gefühl», mitten in einer Landschaft zu stehen.
Die Welt ringsum liegt mir zu Füßen. Ich
bin ihr Mittelpunkt.
Ein Gefühl, so unverfügbar und so flüchtig
wie ein Moment
des Glücks, kaum beschreibbar: das Gefühl,
frei zu sein.
Ulrich Grober
Ich bin erst eine Woche in Spanien, doch es fühlt
sich nach Wochen an. Vielleicht liegt es daran, dass die Zeit auf dem Land
langsamer verstreicht als in der Stadt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich
frei bin, weil alle Zwänge zu Hause geblieben sind. Zeit spielt keine Rolle.
Ich habe lange geübt, bis es soweit war, bis mein Zeitgefühl und mein
Körpergefühl nicht mehr gegeneinander arbeiten. Es ist eine merkwürdige
Erfahrung, festzustellen, was die Norm der Uhr uns täglich antut. Günter Eich
hat das in seinem Hörspiel Das Jahr Lazertis sehr schön
formuliert. Dort vertritt er die Meinung, dass Zeit die Farbe einer wilden
Rose und das Schillern einer Schlangenhaut ist. Welch ein Privileg
ist es doch, Pilger, Reisender oder gleich ein Vagabund zu sein. Zu Fuß gehen: Ein
unvergleichliches Erlebnis. Wer sich die Bedeutung oder den Geschmack des Flanierens auf der Zunge zergehen lässt, der weiß, wovon ich rede.
Ich bin zurück in den Bergen, und kann gleich freier atmen.
Obwohl ich gerne in der Stadt lebe, halte ich Städte nicht sehr lange aus. Die
Lebensphase, in der ich der Stadt unentrinnbar anheimgefallen bin, ist
endgültig vorbei. Spanien ist noch immer noch ein beliebtes Urlaubsland. Eine
Melange der Urbanität der Strände und der Natürlichkeit der Berge. Touristen
sind überall an der andalusischen Küste verteilt. Darüber habe ich mir keine
Illusionen gemacht. Ich bin doch auch gekommen, weil mich das Land fasziniert.
Jeder hat seine eigenen Leidenschaften und Faszinationen; manch einer sogar
Obsessionen. Dabei ist es töricht zu werten. Trotzdem: Ich kann mich mit den
Stränden des internationalen Pauschaltourismus nicht anfreunden. Strände mit
sonnenden Leibern, eine verkehrsreiche Strandpromenade mit Rush Hour und den
berüchtigten Touristenghettos mit ihren monotonen Wohnsilos, aneinandergereiht,
mit Blick aufs Meer. In den Bergen Andalusiens bin ich vor diesen Auswüchsen
sicher.
Es ist noch früh am Morgen, als ich mich auf den Weg
in die Berge der Alpujarras mache, in eine Mittelgebirgslandschaft, die die südöstlichen
Hänge der Sierra Nevada bildet. Der Name der Bergregion stammt, wie so vieles
in al-Andalus, aus dem Arabischen, aber seine Bedeutung kann ich nicht
entschlüsseln. Der westliche
Teil bildet den Südhang dieser Sierra, während sich der östliche Teil bis in
die Provinz Almería erstreckt. Aus der
Ferne lockt der Mulhacén, mit über dreitausend Metern nicht nur der höchste
Berg Spaniens, sondern der iberischen Halbinsel. Der Name des Bergs geht auf
den vorletzten Nasridenherrscher von Granada zurück, auf Abu ´l-Hasan Ali, volkstümlich Muley
Hacén genannt. Eine Legende erzählt, es sei sein Wunsch gewesen, hier
bestattet zu werden. Was gäbe ich für eine Grabstätte in einer solchen
Landschaft. Steile Täler werden von Wasserläufen durchzogen, die durch feuchte
dämmerige Schluchten fließen. Diese vom Schmelzwasser der Gletscher gespeisten
Flüsse begünstigen die Vegetation und bieten gute Voraussetzungen für die
Landwirtschaft. Nach der Schweiz ist Spaniens das gebirgigste Land Europas. Im
8. Jahrhundert begannen die zugewanderten Berber durch ihre nordafrikanische Siedlungsstruktur,
die Terrassierung der Berghänge und ein professionelles Bewässerungssystem das
Bild der Alpujarras zu prägen. Sie haben ihre Spuren tief in den Charakter der
Berge eingeschrieben, die noch immer sichtbar sind. Heute eine ländliche Region mit
geringer Wirtschaftskraft, die Wein, Mandeln, in Lanjarón spanienweit zu
kaufendes Mineralwasser und in Trevelez den berühmten Jamón de
Trevelez produziert. Inzwischen fördert der durch den
landschaftlichen Charme angezogene Tourismus die Ökonomie der Region. Wer
Gerald Brenans South From Granada nicht gelesen hat, der
hält Pampaneira, Bubión und Capileira, weiße Dörfer der Alpujarras,
wahrscheinlich für das Inbild dieser Landschaft. Sie ruhen majestätisch auf
über einander liegenden Terrassen vor der Kulisse der schneebedeckten Sierra
Nevada. Eine malerische Landschaft, reizvoll wie nicht viele.
Ansichtskartenidylle. Granada, die Königin unter Spaniens Städten, liegt auf
der anderen Seite des Gebirges.
Nach einer stundenlangen Odyssee mit dem Bus strande
ich am späten Nachmittag im Heil- und Thermalbad Lanjarón. Der Ort nennt sich
selbst das Tor in die Alpujarras. An der Hauptstraße fließt Heilwasser aus
einem Brunnen. Jeder kann sich bedienen. Also habe ich meine Wasserflaschen
aufgefüllt. In Spanien unterwegs, fühle ich mich gesünder als in Berlin. Die
kleinen Gemeinheiten des Alters spielen plötzlich keine Rolle mehr. Wobei das
Wasser mir hilft? Ich weiß es nicht. Heilwässer sind immer für irgendetwas gut.
In Andalusiens Supermärkten wird es in Plastikflaschen verkauft. Ob es das
gleiche Wasser ist, das in der Quelle sprudelt? Sicher nicht, es wurde
aufbereitet, verarbeitet und in PET-Flaschen gefüllt. Es kann nicht die
gleichen energetischen Schwingungen besitzen Seit Lanjarón trinke ich täglich
davon, denn Glasflaschen sind selten im Angebot. Wobei das Wandern hilft, das
weiß ich ganz genau.
Die Busfahrt hinauf in die Alpujarras ist grandios. Die
Straße steigt höher und höher, mit jeder Kurve auf ein höheres Level. Der
Fahrer nimmt die engen Serpentinen in die Berge mit Schwung. Eine schmale
Straße, ein breiter Bus; schaukelnd, schwankend und hüpfend über Bodenwellen.
Die Kurven folgen immer dichter aufeinander, steigen, werden enger und winden
sich. Die Straße liegt im Schatten eines Bergs, wird schmaler und lässt die
sonnenbeschienene Ebene tief unten hinter uns zurück. Riesen müssen die Straße
aus dem Berg gebrochen haben. Vom Busfenster aus kann ich das ganze Tal des
aufgestauten Río Guadalfeo überblicken. Ein letzter Blick auf das Städtchen Orgíva,
das kleiner und kleiner wird, bis schließlich nur ein heller Fleck im grünen
Tal übrigbleibt. Wie ein Spiegel glänzt ein langgestreckter Stausee in der
Abendsonne. Ausgestreckt auf einem Bergkamm gegenüber schläft Lanjarón, ein
weißer Drache. Der Bus wechselt in den engen Serpentinen immer wieder die
Richtung. Ständig ändert sich die Perspektive. In dicht aufeinander
folgenden Haarnadelkurven fährt er einen ruckelnden Zickzackkurs. Kirmes für
das Innenohr, Kino fürs Auge.
Ich frage einen Mann, der in einem Türeingang sitzt nach einem Hotel. Er antwortet mir, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Seine Antwort klingt wie ein Bergbach, der grollend über Steine ins Tal fließt, ganz nett, jedoch für mich ohne Bedeutung, denn ich kann die Wortgrenzen nicht erkennen. Im Fluss der Rede verstehe ich keine Sätze. Ein Hotel finde ich allein, in einer Seitenstraße, mitten im Ort. Es ist noch früh, aber die Bodega um die Ecke ist bereits gut besucht. Ich dachte, eine Bodega ist eine aus dem Fels gehauene Höhle, in der gewohnt wird oder in der Waren gelagert werden. Der Ort Sentenil, ganz in der Nähe, bietet beeindruckend, was eine Bodega sein kann. Mit Sicherheit kein Restaurant. Es ist laut an den Tischen, wo sich Familien und Kurgäste versammelt haben. In Spanien beginnt die freie Zeit des Tages erst nach acht Uhr abends. Meistens wird es dann sehr spät. Zum ersten Mal esse ich keine Tapas. Ich bin hungrig und zu ungeduldig, um nach einer Bar oder Tapería zu suchen. Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen und getrunken. Im Bus war mir bereits übel vor Hunger.
Ich frage einen Mann, der in einem Türeingang sitzt nach einem Hotel. Er antwortet mir, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Seine Antwort klingt wie ein Bergbach, der grollend über Steine ins Tal fließt, ganz nett, jedoch für mich ohne Bedeutung, denn ich kann die Wortgrenzen nicht erkennen. Im Fluss der Rede verstehe ich keine Sätze. Ein Hotel finde ich allein, in einer Seitenstraße, mitten im Ort. Es ist noch früh, aber die Bodega um die Ecke ist bereits gut besucht. Ich dachte, eine Bodega ist eine aus dem Fels gehauene Höhle, in der gewohnt wird oder in der Waren gelagert werden. Der Ort Sentenil, ganz in der Nähe, bietet beeindruckend, was eine Bodega sein kann. Mit Sicherheit kein Restaurant. Es ist laut an den Tischen, wo sich Familien und Kurgäste versammelt haben. In Spanien beginnt die freie Zeit des Tages erst nach acht Uhr abends. Meistens wird es dann sehr spät. Zum ersten Mal esse ich keine Tapas. Ich bin hungrig und zu ungeduldig, um nach einer Bar oder Tapería zu suchen. Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen und getrunken. Im Bus war mir bereits übel vor Hunger.
In Lanjarón hat das Wochenende begonnen. Ausflugsboom.
Familien, Paare und beliebig zusammengesetzte Gruppen sind eingetroffen.
Urlauber und Rehabilitanden. Es geht familiär und gesellig zu im spanischen
Wochenendtourismus. Und laut, denn jeder will mitreden und mithören. Am Fuß der
Alpujarras gibt es den Ausflug ins Grüne, an der Costa del Sol die Grenzen des
guten Geschmacks. Selbst in der Masse bewahren Spanier die Form und eine
gewisse Eleganz.
Die ersten Wanderungen durch Andalusien führten mich
vor ein paar Tagen in die Axarquía und in die Sierra de Almijara, Landschafen im
Hinterland von Málaga und Nerja, zu einem Parque Natural zusammenfasst.
Jetzt bin ich wieder oben. Höher werde ich in meinem Leben wohl nicht mehr
kommen. Die Massenbewegung, die jetzt den Mount Everest stürmt, widert mich an.
Mittlerweile wagt China den Aufstieg auf den höchsten Berg der Erde. Ich
wandere lieber allein. Solo quiero caminar! singt Paco de
Lucia zu Flamencomelodien. Er hat Recht, denn Masse zerstört die Schönheit. Die
Tourismusindustrie verdient, und es ist zweifelhaft, ob viel davon die Dörfer
der Sherpa erreicht, die die Last des Himalayatourismus tragen und den Preis
zahlen. Ich habe Nepal bereist und den Himalaya gesehen, den Aufstieg auf den
Amlapura und Everest aber ausgelassen, weil der Trail in den 1980ern schon zu
ausgetreten war. In meinem Alter sind mir Kondition und das Bedürfnis, Rekorde aufzustellen,
abhandengekommen. Es gibt nichts zu beweisen, und Quantität ersetzt keine
Qualität, höchstens Erlebnisse für einen rivalisierenden Vergleich. Masse und
Umweltzerstörung gehen Hand in Hand und gefährden die Landschaften unseres
Planeten. Bescheidenheit und Solidarität gewährleisten einen sanfteren
Fußabdruck. Höher, weiter und schneller: kein nachhaltiger Weg.
Die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada scheinen zum
Greifen nah. Mir genügt es, in der Höhe von Mittelgebirgen zu wandern, und die
vereisten, lebensfeindlichen Gipfel der Sierra Nevada aus der Ferne zu
bestaunen. Morgen beginnen meine Exkursionen. Nur für den Genuss.
Drei Tage. Jeden Tag eine neue, eine ganz andere Wanderung.
Las Alpujarras! Es hat gedauert, bis ich den Namen richtig aussprechen konnte.
Wieder schwebt etwas Arabisches zwischen den Silben: Al, wie leicht das klingt!
Beschwingt! Ein Lied könnte mit dieser Silbe beginnen. Ganz zuletzt, erst Ende
des 15. Jahrhundert, unterlag das maurische Granada der Reconquista. Las Alpujarras!
Eine der letzten interkulturellen Bastionen des Islams in Europa bevor die
Mauren Andalusien für immer verließen. Ein Pass, der Suspiro del Moro, trennt
Granada von den Alpujarras. Der letzte der maurischen Nasridenherrscher von Granada, Abu `Abd Allah Muhammed, den seine katholischen Gegner Boabdil nannten, soll
sich auf der Flucht umgewandt und geweint haben, als er auf das verlorene
Granada und die Alpujarras zurückschaute, damals, als die die maurische Herrschaft auf der iberischen Halbinsel für immer beendet wurde und das Christentum sich auf den letzten Resten einer
großartigen Kultur ausbreitete, deren Wesen es nicht verstanden hat;
zuallerletzt zum Wohl der Menschen. Solche Legenden erzählt man sich in diesem
Zusammenhang immer. Es ist landschaftlich beeindruckend, über diesen Pass in
die große Ebene hinabzufahren, in sich der Granada ausbreitet, die Stadt der
zwei Hügel, auf der anderen Seite, zu Füßen der Sierra Nevada.
Im Schatten der Sierra Nevada zu wandern, hoch
hinaus, kostet Kraft. Auf Maultierpfaden, die bis in die maurische Epoche
Spaniens zurückreichen. Über das sprichwörtliche Stock-und-Stein. Sich
vorzustellen, wie Briganten, Rebellen und Schmuggler auf geheimen Pfaden durch
die Berge geschlichen sind. Hemingways Wem die Stunde schlägt kann
sich auch in diesen Bergen ereignet haben. Pampaneira, Bubión und Capileira
heißen drei Ortschaften, die wie weiße Flecken auf den grünen Hängen liegen. Gute
Basislager für Tageswanderungen. Architektur und Siedlungsweise dieser Dörfer
sind im Westen Europa ungewöhnlich. Sehr arabisch, fast nordafrikanisch.
Kubische Bauten, strahlend weiß gekalkt, mit kleinen Fenstern, ein Pueblostil,
aneinander gebaute, viereckige Häuser wie Würfel oder Boxen, mit Flachdächern,
an engen Gassen mit schmalen Kanälen, in deren Mitte das Wasser bergab fließt.
Und das bereits in einer Zeit, in der Unrat in den Straßen mittelalterlicher,
christlicher Städte zum Himmel stank, die hygienischen Zustände katastrophal
waren. Die iberischen Mauren verstanden es, die Hinterlassenschaften Roms zu
bewahren und weiter zu entwickeln. Nebenbei bemerkt: Sie bewahrten die Philosophie
des Aristoteles vor dem fanatischen Zugriff der frühen Christen. Viele der
Häuser sind mit überdachten, bewohnten Durchgängen verbunden, dem auch in
Nordafrika verbreiteten Taneo. Drei andalusische Pueblos Blancos.
Sie erinnern an Nester einer Vogelkolonie, die sich gemeinsam schützend an die
Flanken der Berge schmiegen, die hinab in eine tiefe, dunkle Schlucht stürzen.
Am Grund fließt der Río Poquiera. Die drei Orte liegen übereinander auf
Terrassen, der nächste immer etwas höher.
Ich wohne in Bubión, in der Mitte, im kleinsten der Dörfer,
auf 1600 Metern. An der Hauptstraße einige Pensionen und Restaurants. Eins
davon zieht mich besonders an, weil es schon auf der Terrasse lebhaft zugeht,
wo die Raucher stehen. Im Durchgang vor der Bar herrscht Gedränge, das
Nebenzimmer wartet auf die Gäste, die vornehmer zu Abend essen wollen. Menu
del Día, das Tagesgericht. Die Entscheidung ist nicht schwer: Ich bleibe
und esse gleich am Tresen, eingebettet zwischen Gesprächen und TV. Kaninchen
steht auf der Tageskarte. Conejo ist eines der ersten
spanischen Worte, die ich lernte. Ich fand es in einer Reiseerzählung von
Carmen Rohrbach, über ihre Erlebnisse auf dem Camino Francés. Ich lebe
vegetarisch, was im ländlichen Spanien nicht immer eine zu bewältigende Herausforderung
ist. Mein letztes Kaninchenfleisch habe ich als Jugendlicher gegessen. Mein
Vater züchtete sie und brachte sie immer selbst geschlachtet mit nach Hause.
Als Kind habe ich einmal gesehen, wie er eins der Tiere mit einem Stock
erschlug, es an die Tür nagelte und ihm mit schneller Hand das Fell abschlug.
Ich war entsetzt über so viel Brutalität, doch nur einen Moment lang.
Geschmeckt hat mir das Fleisch trotzdem. Mein Vater war Bauer, und das
Kaninchen von Bubíon fand während einer Jagd seinen Tod. Jetzt weiß ich, dass
Essen nicht nur etwas mit Geschmack, sondern auch mit Ethik zu tun hat; mit
Tierrechten, Klimaschutz und Gesundheit. Jahrtausende eingeübte Gewohnheiten
und rigide Überzeugungssyteme, psychisch tief verankert, bringen jährlich
weltweit Milliarden Tieren den Tod. Meine Mutter legte die Kaninchen, die mein
Vater brachte, gewürzt über Nacht in Milch ein. Gebratenes Kaninchen war ein
Familienritual, besonders an Feiertagen, wie der Truthahn zu Thanksgiving. Andere
wurden an die Nachbarn verkauft. In den Alpujarras sind Kaninchengerichte eine
lokale Spezialität. Doch das erfuhr ich erst viel später.
Kaum zu glauben. Einst war Bubión das maurische
Verwaltungszentrum der Alpujarras. Ein verschlafener Ort, während Pampaneira
und Capileira den Tourismus feiern. Was machen die vielen Besucher alle? Auf
den Pfaden in den Bergen habe ich nur vereinzelt andere Wanderer getroffen.
Morgen früh gehe ich von Bubión nach Bubión, und dazwischen noch höher hinauf
in die Alpujarras. Tageswanderungen im erweiterten Nahraum. Neue
Berglandschaften mit faszinierenden Ausblicken über die Gipfel hinweg und hinab
in die Tiefe. Vor allem aber in die Weite, über Berge mitten ins Blaue. Die
intensive Stille auf den Gipfeln, der erste Augenblick, wenn das Blut vom Aufstieg
noch in den Ohren rauscht, und ein tiefer Atemzug die Brust weitet, während die
Endorphine das Übrige tun, angefüllt mit inneren Klängen. Die Dichter der
Romantik haben der Natur ihre Poesie mit ihrem eigenen Leib abgespürt. Ihr Genie
hat das Gespürte ins Wort gebannt. Niemand hat die Magie von Berg und Wald
schöner geschildert als Eichendorf und Stifter. Was bringt diese Emotionalität
als Haltung in eine postmoderne Welt zurück? Den Kontakt zur Natur zu
verlieren, kostet uns die Seele. Wir laufen alle Gefahr, ein Alberich oder ein Holländer-Michel
zu werden.
Es ist Nachmittag. Ich sitze auf einer kleinen Plaza
in einem kleinen Dorf. In Capileira, in der Sonne. Umweht von einem kleinen
Wind, kaum eine kühle Brise. Den ganzen Tag ist er anwesend, und manchmal wird er
mir zu kalt. Erst spät am Nachmittag, wenn die Sonne sinkt, legt er sich mit
ihr zur Ruhe. Wer denkt, die Costa del Sol ist nur Strand und Massentourismus,
der irrt. Gleich jenseits des zwei bis drei Kilometer breiten Küstenstreifens
geht es hoch hinauf in die Berge, in die Sierras mit ihren geheimnisvollen
Namen, viele von ihnen Naturschutzgebiete. Schnell bin ich tausend Meter hoch.
Die höchsten Gipfel in der Sierra Nevada sind Dreitausender, auf denen noch
Schnee liegt. Das verkündet bereits der Name: Nevada. Ein Bundesstaat der USA
heißt so. In Andalusien treffe ich auf viele aus dem Südwesten Nordamerikas
geläufige Namen. Ich stelle mir gerne vor, Migranten aus Andalusien haben den
ganzen Süden Nordamerikas, von Florida bis California, in Besitz genommen und
benannt. Die Landschaften und Orte haben sie nach ihrem Geschmack umbenannt, um
sich die verlorene Heimat zu ersetzen. Nördlich von Sevilla begegnete ich vor
einem Jahr einem anderen Andalusien; grüner und bewaldeter. Stundenlang wanderte
ich von einer Dehesa in die nächste. Auf roten Wegen, unter dem
dunkelgrünen Laub der Stein- und Korkeichen. Durch Olivenplantagen und über
Weiden. Der Kuckuck war allgegenwärtig, und fremde Vögel sangen ihr Lied für
mich. Laubbäume gibt es im südlichen Andalusien kaum, wenn überhaupt, dann nur
vereinzelt. Einsam krallen sie ihre Wurzeln in die steilen Hänge. Nadelbäume,
Pinien und Kiefern sind verbreiteter, aber je höher ich komme, weichen sie
auch. Zuletzt bleibt ein einsamer Baum auf der Höhe, eine dramatische
Silhouette vor einem weiten Himmel. Ohne Bäume zu sein, fällt mir schwer, doch
gelegentlich entschädigt mich ein berauschendes Bergpanorama für den Verlust.
Berg folgt auf Berg, sie überschneiden sich, laufen in parallelen Reihen
nebeneinander her, liegen hintereinander, überragen sich, die niedrigen
versinken hinter den hohen. Tief eingeschnittene Täler, von oben betrachtet ein
V mit flach gedrückter Spitze, trennen den einen Höhenzug vom nächsten.
Teilweise spitze Winkel, wenn die Natur, die Meisterin des Runden, Weichen und
Gekrümmten, denn so etwas zulässt. Wenn auch nicht lotrecht oder in geraden
Linien, so stürzen die steilen Hänge der Alpujarras beinahe senkrecht in die
Tiefe. Im Talgrund, in den engen, von Unterholz und Dickicht fast versperrten
Klüften, fließen Flüsse, deren spärliche Wasser über rund geschliffene Felsen
sprudelt. Hat man sich erst einmal einen Weg hinab gebahnt, sind sie einfach zu
queren, denn es ist viel zu trocken in Andalusien. Es gibt immer genug
Trittsteine oder flache Passagen in den Flussbetten, Kiesbänke oder den einen
oder anderen zwischen Steinen eingeklemmten Ast. Abwechselnd geht es auf und
ab. Nirgendwo ist der Pfad eben. Den geraden Weg gibt es nie. Meistens sind die
Wege nur steigende, steinige Pfade. Auf der einen Seite fällt der Hang beinahe
senkrecht in die Tiefe, auf der anderen steigt er genau so steil an. Zwischen
beiden schlängeln sich schmale Passagen am Hang entlang. Mehr Steigen als
Wandern, über Geröll und Fels. Pfade für Maultiere und für Ziegen, die mühsam,
aber aufregend zu begehen sind.
Bandoleros! Andalusische Banditen! Sie
operierten bis ins 19. Jahrhundert in den Bergregionen Andalusiens. Sie fanden
Zuflucht in den schwer zugänglichen Bergen. Geächtete, aus dem Rechtssystem
einer Gesellschaft Ausgestoßene. Wer gesetzlos war, war sozial und zivil tot.
Niemand durfte ihm Nahrung, Unterkunft oder andere Unterstützungen anbieten,
wollte er nicht der Beihilfe schuldig sein und hart bestraft werden. Ein
Gesetzloser konnte ungestraft getötet werden. Dass war kein Mord, sondern ein
Verdienst an der Gemeinschaft. Ein archaischer Brauch, ohne Gerechtigkeit,
Moral und Humanität. Wir empfinden das so. In anderen Zeiten galten andere
Regeln, die sinnvoll waren, auch wenn sie uns abstoßend erscheinen. Im
Andalusien des 18. Jahrhunderts war es üblich, Menschen, die gegen die
geltenden Eigentumsnormen verstießen, aus der Gemeinschaft auszustoßen. Auch im
Kapitalismus werden Diebe sozial gebrandmarkt, nur eben auf eine andere Weise,
auf eine, die wir für human halten. Die Brutalität eines sozialen Todes ist nur
schwer nachfühlbar. Menschen sterben an dieser Strafe, oder werden verrückt,
wenn sie keinen Weg finden, sich dagegen aufzulehnen. El Bandido
Generoso, mit bürgerlichem Namen Diego Corrientes Mateos, war ein
Vogelfreier. Mich berührt es seltsam, das entbehrungsreiche Leben eines
Banditen für vogelfrei zu halten; eher für bindungsfrei. Der großzügige Bandit
wurde am 20. August 1757 in Utrera, in der Provinz Sevilla, geboren, und einen
Tag später in der damals schon alten Iglesia de Santiago auf die Namen Diego
Francisco Bernardo getauft. Seine Biografie ist wenig bekannt und rätselhaft,
sodass man sie mit legendarischen Zügen ausschmückte. Diego Corrientes stammte
aus der andalusischen Arbeiterklasse, der er sein Leben lang verbunden blieb.
Es war deren unterprivilegierte Situation, die ihn schließlich zum Anführer
einer Gruppe von Outlaws und zum Dieb machte. Die volkstümliche Überlieferung
schildert ihn als einen Banditen mit außergewöhnlichen Mut, Schlauheit, von
großen Geist, Lebendigkeit und bewundernswerter Stärke, Eigenschaften, die er
zum Wohl der Armen einsetzte, und die ihn zum altruistischen Helden
stilisieren. Berühmt ist seine erbitterte Fehde mit Don Francisco de Bruna, dem
Regenten von Sevilla, der ihn bis zu seinem Tod erbittert verfolgte. Er erließ
ein Edikt, das jede Person ermächtigte, Diego Corrientes gegen eine Belohnung
zu töten oder zu verhaften. Mit dem großzügigen Banditen sind auch eulenspiegelhafte
Motive verbunden. So trat er verkleidet in Sevilla auf, präsentierte sich in
einer Ausstellung und übergab sich selbst dem Regenten de Bruna. Einmal sollen
sich die beiden auf einer Brücke in der Nähe von Utrera getroffen haben, wo der
Bandit den Adeligen vorgeführt hat und ihm die Schuhriemen zusammenband.
Legendenbildung und Heroisierung haben nichts mir der historischen Realität zu
tun, in der der Bandit wie ein Staatsfeind gnadenlos verfolgt wurde. 1780 bot
Karl III. von Spanien jedem, der Diego Corrientes tot oder lebendig gefangen
nimmt, hundert Goldstücke Belohnung. Nach einem Hinweis wurde er in Cobillán
(Badajoz) gefangen genommen und festgesetzt, konnte aber nach Portugal fliehen.
Auch in Olivenza, in Portugal, wo er sich in einem Bauernhaus versteckt hielt,
wurde er angezeigt. De Bruna musste hundert Männer senden, denen es schließlich
gelang, ihn gefangen zu nehmen und nach Sevilla zu überführen, wo er vor
Gericht gestellt wurde. Von juristischen Unregelmäßigkeiten im Auslieferungsprozess
von Portugal nach Spanien ist die Rede. Am 30. Mai 1781 wurde er in Sevilla
gehängt und anschließend gevierteilt. Seine Körperteile wurden in den Straßen
ausgestellt, sein Kopf in einem Käfig aufbewahrt, bis er schließlich in der
Kirche San Roque beigesetzt wurde. Das finstere Mittelalter reicht bis in der
Neuzeit. Corrientes Schädel, in den ein Metallhaken eingesetzt war, wurde im
20. Jahrhundert bei Restaurierungsarbeiten der Kirche gefunden. Ein Leben als
Modell, mit allen Klischees, historischen Splittern und Erfindungen, die es
braucht, einen Helden zu kreieren. Die Furcht, die der andalusische Feudaladel
vor Männern wie ihm hatte, denen der Sturz eines ungerechten System zugetraut
wurde, äußert sich in diesen Überlieferungen. In der Geschichte der
andalusischen Bandoleros ist El Bandido Generoso der idealisierte Archetypus
eines Robin Hood, der den Reichen nahm, um den Armen zu geben. In der Legende,
die sein kurzes Leben fiktionalisiert, haben Romanzen und Anekdoten eine
größere Bedeutung als die historische Realität. Was ihn über den Tod und die
Zeit hinaus sympathisch macht, und ihn von anderen andalusischen Banditen
unterscheidet, ist eine weitere Charaktereigenschaft: er ist ein gewaltloser
Bandolero, der nie Blut vergossen hat. Anders als seine Nachfolger, auch seine
literarischen. Die berühmtesten sind Robin Hood und Zorro, die in die Rolle
eines Banditen schlüpften, um Ungerechtigkeiten zu rächen, verewigt in
Hollywoods Filmen, beginnend mit Douglas Fairbanks, zuletzt mit Russell Crowe.
Diego Corrientes ist eine authentische, historische Persönlichkeit aus der
Unterschicht der spanischen Landarbeiter, dessen Taten in der Kunst
weiterleben, in wissenschaftlichen und belletristischen Werken, in Büchern und
Groschenheften. Er wurde in vier Filmen porträtiert, darunter zwei Stummfilmen.
Die jüngste Regiearbeit, ein spanischer, historischer Abenteuerfilm aus dem
Jahre 1959, von Antonie Isai-Isasmendi, widmet sich aufs Neue dem Leben des
Straßenarbeiters Diego Corrientes Mateos.
Wer zu Fuß durch diese Berge geht, ist ihr
unmittelbarer ausgeliefert als jemand, der zwischen seinen vier Wänden lebt. Oft
anstrengend, und wäre da nicht das anregend Fremde, die Begeisterung, geschürt
von Endorphinen, die in meinem Blut manchmal wie ein schäumender Bergfluss
fließen, über Felsbrocken und Stromschnellen, in jagender Talfahrt, ich würde
zu Hause bleiben. Nicht selten bin ich körperlich erschöpft. Das Alter ist
gnadenlos. Dann schaffe ich es nur noch zum Essen und ins Bett und erst am
frühen Abend bin ich wieder zu gebrauchen. Doch das Erlebnis ist
unvergleichlich und wiegt alle Missempfindungen auf. Und dann muss ich wieder
hinaus. Es ist etwas Besonderes, auf Maultierpfaden zu wandern, die seit
Jahrhunderten benutzt werden. Alte Pfade, wissende Pfade. Das bietet kein
Museum. Gegen schmerzende Füße und meckernde Knie gibt es Hilfsmittel: Stöcke
und Bandagen. Und dann bin ich viel zu plötzlich in Granada. Nach Tagen in
abgelegenen weißen Dörfern und auf einsamen Bergpfaden. In einer großen Stadt,
in der Menschen und ihre Wohnungen an asphaltierten Straßen den Ton angeben, wo
die Natur ein Schattendasein führt, und die Schluchten zwischen den Häusern
rechteckig sind. Doch es gibt Steigungen genug. Ich bin um fünf Uhr morgens
aufgestanden, um den Bus aus den Bergen zu nehmen. Ein zweiter Bus verlässt
Bubión erst am späten Nachmittag. Zu spät, um in Granada einzutreffen. Früh
aufzustehen ist für mich immer eine Herausforderung. Ich gehöre nicht zu den
Wanderern, die mit Im Frühtau zu Berge auf den Lippen bei
Sonnenaufgang aufbrechen. Ich bin eine Eule, und ein schöner Nachmittag und
verzaubernder Sonnenuntergang sind mehr nach meinem Geschmack. Doch wenn es
darauf ankommt ...!
Verschlafen und bepackt, mit Augen, die nicht aufbleiben
wollen, stehe ich im morgendlichen Betrieb einer großen Stadt. Wieder einmal
orientierungslos. Nach der Ruhe und Einsamkeit der Bergwelt, der
Unaufgeregtheit der Dörfer, Tage, in meinen eigenen Rhythmus, ist Granada ein
fast unerträglicher Kontrast. Aber ich muss Granada unbedingt sehen, vermutlich
komme ich der Stadt der Alhambra so schnell nicht näher. Jetzt weiß ich nicht
einmal mehr, ob das Timing passt. Ich habe ein Bett in einem bescheidenen
Schlafsaal gefunden, im Stadtteil Albaizín, dem alten maurischen Granada auf
dem Hügel gegenüber der Alhambra. Verwickelte, enge Gassen und kleine Plätze,
die eine melancholische Stimmung ausstrahlen. Von der Kathedrale über die Plaza
Nueva gehe ich den steilen Hügel hinauf, vorbei an Bars, Restaurants und
Souvenirshops. Ich dränge mich zwischen Touristen hindurch, die lässig durch
die Gassen bummeln, immer wieder stehen bleiben, in Schaufenster schauen oder
einen Stadtplan zücken. Der Albaizín ist das Zentrum des nächtlichen Granadas:
die Calle Panaderos, zwischen der Plaza Larga und der Plaza de Abad. Eine
Vergnügungsmeile feiernder und ausgelassener Touristen, die nie zur Ruhe kommt.
Es sind immer wieder die besonderen Orte, die mit historischer und ästhetischer
Bedeutung, über die der Massentourismus herfällt. Sie sind das andere seiner
heimischen Alltagswelt, eine verwirrende Fremde, ein unvertrautes Terrain, das
seine kulturellen Regeln außer Kraft setzt, und ihn rauschhaft enthemmt. In
dieser regellosen Blase verhalten sich viele Touristen unangemessen und
respektlos. Wir waren nur zu zweit, in einem Schlafsaal mit acht Betten. Ich
hätte es schlechter treffen können, und habe eine exzellente Gesellschaft. Ein
Radwanderer aus Hongkong, der seit zwei Jahren in der Welt unterwegs ist. Ein
Gitarrist, der in Granadas Straßen spanische Musik studieren will. Gute Unterhaltung
und ein kostenloses Konzert. Ein Chinese, der Flamenco spielt und mir Vorträge
über Spielweise und Traditionen hält, in gebrochenem Englisch, von dem ich das
meiste vergessen habe. Irgendwann muss ich den Schlafsaal verlassen, denn ich
kann ihn nicht mehr ertragen, so sehr redet er auf mich ein. Unsere Unterhaltung
ist schon lange kein Gespräch mehr. Interessante Menschen wie ihn trifft man
nicht in den Hotels, sondern auf der Straße und in den preiswerten Herbergen,
in denen sich auch die Wanzen wohlfühlen. Plötzlich werde ich traurig, vielleicht
liegt es an der Musik, aber ich vermisse die Pilgerwege so sehr, dass es
schmerzt. Diese unvergleichlich durchmischte Community von Menschen aus aller
Herren Länder, Persönlichkeiten jeglicher Couleur. In diesem Jahr wandere ich
allein. Natürlich ist auch das ländliche Spanien keine Idylle, nicht rein und
unschuldig, denn die Sünden der Konsumgesellschaft lauern in manchen Ecken.
Spanien ist ein Fleischland. Es ist schwierig, mich vegetarisch zu ernähren.
Auch heute Abend breche ich wieder meine Regeln. In Spanien leben nur 1,2
Prozent der Bevölkerung vegetarisch; nur 0,2 Prozent ernähren sich vegan. Viele
ökologische Probleme lassen sich einfach lösen, wenn die Menschen ihr Verhalten
der Natur und ihren Mitgeschöpfen gegenüber verändern würden. Wir hinterlassen
den kommenden Generationen massive Einschränkungen, gegen die unsere aktuellen
Probleme ein Sonntagnachmittagspaziergang sind. Vielleicht führt aktuelle Blick
auf den eingetroffenen Klimawandel zu einer neuen, ökologisch nachhaltigeren
Lebensweise, in der die Menschen neue Werte entdecken und ihr Verhalten ändern.
Eine Rückkehr, zu den Tugenden der Bescheidenheit, des Verzichts, des
Altruismus und der Demut, scheint nur noch auf diesem Wege möglich.
Es ist Frühling. Unaufhaltsam drängt sich die
Jahreszeit ins Freie. Auch in Granada. Der Regen der frühen Vormittagsstunden
ist längst Geschichte. Die Sonne lacht, und es ist angenehm warm. Der kalte
Wind scheint sich mit dem Ostervollmond zu verabschieden. Auf dem Albaizín wird
ohne Ende flaniert, gebummelt und genossen; bis alle Kapazitäten kollabieren.
Wie bin ich nur auf die Wahnsinnsidee gekommen, über Ostern in Granada zu sein.
Ich gebe den Flaneur in der Altstadt und den Stadtwanderer zurück zu meinem
Quartier ins moderne Granada. Ich bemühe mich nach Kräften, mich in der Stadt
zu verirren. Ich gehe und gehe, kreuz und quer durch die Stadt, gehe durch alle
Gassen und Straßen, die sich öffnen, auch in die verstopften Gassen rund um die
Kathedrale, und über die Prachtstraßen mit ihrem mondänen Konsumangebot. Ich
steige hinauf zur Alhambra, mische mich unter den Ansturm der Besucher, sitze
enttäuscht vor der Alcazaba, für die ich keine Reservierung habe. Wochen im
Voraus muss eine Besichtigung gebucht werden, am besten online. Aus dem
gleichen Grund bin ich nicht auf dem Caminito del Rey gewandert, einen drei
Kilometer langer Klettersteig, bis vor seiner Restaurierung 2015 der
gefährlichste der Welt. Nun ist der Königsweg ein Caminito, ein kleiner Wanderweg,
und hoffnungslos überlaufen. Trotzdem bleiben die Schluchten, durch die er
führt, eine spektakuläre Landschaft. Ein schwindelerregender Wanderweg in bis
zu zweihundert Meter Höhe auf hölzernen Planken eng entlang steiler Wände und
über steinere Brücken. El Chorro, früher ein Paradies für Kletterer, und
immer noch nichts für Agoraphobiker. Der Kanal, tief unten in der Garganta del
Chorro genannten Schlucht, gehört zu einem Projekt des Ingenieurs Rafael Benjumea y Burín zur Nutzung der
winterlichen Niederschläge, zu dem Rohrleitungen, Talsperren und
Wasserkraftwerke gehören. Durch den Kanal in der Garganta del Chorro fließt vom
Río Guadalhorce abgezweigtes Wasser, das zwei Talsperren miteinander verbindet.
Seit mir Brigitta vor zwei Jahren von diesem
Weg erzählt hat, träumte davon, ihn zu begehen. Jetzt kenne ich die
Wirklichkeit und bin enttäuscht. Ich erinnere mich daran, solche Orte zu meiden.
Wo alle hingehen, gibt es nichts mehr zu erleben. Brigitta traf ich auf dem
Camino Primitivo, kurz hinter Oviedo, auf einer Bank, wo sie ihre schmerzenden
Füße versorgte. Kurz darauf humpelte sie in die Bar, in der ich am Tresen saß,
rief mit naiver Selbstverständlichkeit der spanischen Wirtin und den Gästen ihr Hello! und A
Coke please! zu. Danach hatten wir immer wieder lustige Begegnungen. Erst
hunderte Kilometer später, in Fisterra, haben wir uns aus den Augen verloren.
Sie flog ohne Vorausbuchung nach Málaga. Ob sie es auf den spektakulären Weg zwischen
den Felswänden von El Chorro geschafft hat? Ich schmuggele mich im Schutz einer
Führung mit in den Renaissancepalast von Karl V., dem Monarch, von dem es
heißt, er beherrschte ein Reich, in dem die Sonne nie unterging. Sein Palast
ist ein in Stein gegossenes, kosmisches Symbol der Macht: ein Viereck, dessen
Inneres ein Kreis ist, ein runder, mit einem Mosaik verzierter Platz, ein
Symbol für Himmel und Erde, umgeben von einem Arkadengang. Ich gehe hinüber
nach Sacromonte, in das ehemalige Zigeunerviertel, noch immer eine der
Hochburgen des Flamencos. Überreste der in den Berg gegrabenen Kavernen, in
denen im 18. Jahrhundert zusammengedrängt die Familien der Ärmsten lebten; den
Bodegas. So überliefern es die frühen Reisenden in ihren Schriften. Es lohnt
sich, nach Sacromonte hinauf zu gehen, denn der Blick auf die Alhambra, und die
schneebedeckte Sierra Nevada, die sich hinter der Burg erhebt, ist nirgendwo
schöner. Einfach immer weitergehen und ausreichend abbiegen lautet meine Empfehlung
für eine Stadtwanderung in Granada. Die Gassen sind eng und schmal, verwinkelt
genug, um schnell genug die Orientierung zu verlieren, wenn ich mich nicht auf
Weg und Richtung konzentriere. Drei Tage wandere ich durch die Stadt. Flaniere,
soweit das möglich ist, sehe und staune, sitze und raste, frage und rede.
Überall ist es überfüllt. Feiertage. Die Spanier sind keine Stubenhocker. Die
meisten Wohnungen sind klein, das Leben findet draußen statt. Subtrahiere ich
den internationalen Tourismus und lasse nur den spanischen übrig, dann erinnert
mich Granada an Sevilla. En miniature an Mérida, noch eine Stufe kleiner, an
Zafra, das Sevilla Chica. Alle sehr schöne Städte, sehr spanisch,
jedenfalls was ich darunter verstehe. Ich sitze auf einer großen Plaza auf
einer Bank in der Sonne, um mich aufzuwärmen, denn der Wind weht wieder kalt.
Alles um mich herum, so spanisch, wie es eben geht. Ich kann sie aus allem
herausspüren, diese Atmosphäre, ohne sie genau beschreiben zu können: sie ist
lebhaft, flirrend, temperamentvoll. Kein anderes europäisches Land besitzt
dieses Flair. Ich habe die Tapería gerade erst verlassen, schon beginnt es zu
regnen. Wo ist die nächste Bar, die nächste Cafetería? Doch die wenigen, die
sich zwischen den zahlreichen Restaurants verstecken, sind schnell überfüllt.
Ich quetsche mich in die erste Bar am Weg und hoffe, dass es schnell wieder
aufhört zu regnen. Aber nun ist er da, der Regen, der den ganzen Tag mit
dunklen Wolken von der Sierra Nevada herüberdrohte. Doch ich habe einen Platz
im Trockenen gefunden, unterhalte mich, notiere und trinke ein weiteres unfreiwilliges
Bier. Bummeln plus Trödeln gleich Flanieren. Was gibt es Schöneres? Wie ist die
Menschheit nur auf den Arbeitsalltags-Wahnsinn verfallen? Es ist die Gier, eine
der sieben Todsünden, das ultimative Böse. Die Gier korrumpiert immer mehr
Menschen. Denn sie ist niemals satt? Niemals!
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