Mittwoch, 29. April 2020

Las Alpujarras


Das «panoramische Gefühl», mitten in einer Landschaft zu stehen.
Die Welt ringsum liegt mir zu Füßen. Ich bin ihr Mittelpunkt.
Ein Gefühl, so unverfügbar und so flüchtig wie ein Moment
des Glücks, kaum beschreibbar: das Gefühl, frei zu sein. 
Ulrich Grober


Ich bin erst eine Woche in Spanien, doch es fühlt sich nach Wochen an. Vielleicht liegt es daran, dass die Zeit auf dem Land langsamer verstreicht als in der Stadt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich frei bin, weil alle Zwänge zu Hause geblieben sind. Zeit spielt keine Rolle. Ich habe lange geübt, bis es soweit war, bis mein Zeitgefühl und mein Körpergefühl nicht mehr gegeneinander arbeiten. Es ist eine merkwürdige Erfahrung, festzustellen, was die Norm der Uhr uns täglich antut. Günter Eich hat das in seinem Hörspiel Das Jahr Lazertis sehr schön formuliert. Dort vertritt er die Meinung, dass Zeit die Farbe einer wilden Rose und das Schillern einer Schlangenhaut ist. Welch ein Privileg ist es doch, Pilger, Reisender oder gleich ein Vagabund zu sein. Zu Fuß gehen: Ein unvergleichliches Erlebnis. Wer sich die Bedeutung oder den Geschmack des Flanierens auf der Zunge zergehen lässt, der weiß, wovon ich rede.
Ich bin zurück in den Bergen, und kann gleich freier atmen. Obwohl ich gerne in der Stadt lebe, halte ich Städte nicht sehr lange aus. Die Lebensphase, in der ich der Stadt unentrinnbar anheimgefallen bin, ist endgültig vorbei. Spanien ist noch immer noch ein beliebtes Urlaubsland. Eine Melange der Urbanität der Strände und der Natürlichkeit der Berge. Touristen sind überall an der andalusischen Küste verteilt. Darüber habe ich mir keine Illusionen gemacht. Ich bin doch auch gekommen, weil mich das Land fasziniert. Jeder hat seine eigenen Leidenschaften und Faszinationen; manch einer sogar Obsessionen. Dabei ist es töricht zu werten. Trotzdem: Ich kann mich mit den Stränden des internationalen Pauschaltourismus nicht anfreunden. Strände mit sonnenden Leibern, eine verkehrsreiche Strandpromenade mit Rush Hour und den berüchtigten Touristenghettos mit ihren monotonen Wohnsilos, aneinandergereiht, mit Blick aufs Meer. In den Bergen Andalusiens bin ich vor diesen Auswüchsen sicher.

Es ist noch früh am Morgen, als ich mich auf den Weg in die Berge der Alpujarras mache, in eine Mittelgebirgslandschaft, die die südöstlichen Hänge der Sierra Nevada bildet. Der Name der Bergregion stammt, wie so vieles in al-Andalus, aus dem Arabischen, aber seine Bedeutung kann ich nicht entschlüsseln. Der westliche Teil bildet den Südhang dieser Sierra, während sich der östliche Teil bis in die Provinz Almería erstreckt. Aus der Ferne lockt der Mulhacén, mit über dreitausend Metern nicht nur der höchste Berg Spaniens, sondern der iberischen Halbinsel. Der Name des Bergs geht auf den vorletzten Nasridenherrscher von Granada zurück, auf Abu ´l-Hasan Ali, volkstümlich Muley Hacén genannt. Eine Legende erzählt, es sei sein Wunsch gewesen, hier bestattet zu werden. Was gäbe ich für eine Grabstätte in einer solchen Landschaft. Steile Täler werden von Wasserläufen durchzogen, die durch feuchte dämmerige Schluchten fließen. Diese vom Schmelzwasser der Gletscher gespeisten Flüsse begünstigen die Vegetation und bieten gute Voraussetzungen für die Landwirtschaft. Nach der Schweiz ist Spaniens das gebirgigste Land Europas. Im 8. Jahrhundert begannen die zugewanderten Berber durch ihre nordafrikanische Siedlungsstruktur, die Terrassierung der Berghänge und ein professionelles Bewässerungssystem das Bild der Alpujarras zu prägen. Sie haben ihre Spuren tief in den Charakter der Berge eingeschrieben, die noch immer sichtbar sind. Heute eine ländliche Region mit geringer Wirtschaftskraft, die Wein, Mandeln, in Lanjarón spanienweit zu kaufendes Mineralwasser und in Trevelez den berühmten Jamón de Trevelez produziertInzwischen fördert der durch den landschaftlichen Charme angezogene Tourismus die Ökonomie der Region. Wer Gerald Brenans South From Granada nicht gelesen hat, der hält Pampaneira, Bubión und Capileira, weiße Dörfer der Alpujarras, wahrscheinlich für das Inbild dieser Landschaft. Sie ruhen majestätisch auf über einander liegenden Terrassen vor der Kulisse der schneebedeckten Sierra Nevada. Eine malerische Landschaft, reizvoll wie nicht viele. Ansichtskartenidylle. Granada, die Königin unter Spaniens Städten, liegt auf der anderen Seite des Gebirges.

Nach einer stundenlangen Odyssee mit dem Bus strande ich am späten Nachmittag im Heil- und Thermalbad Lanjarón. Der Ort nennt sich selbst das Tor in die Alpujarras. An der Hauptstraße fließt Heilwasser aus einem Brunnen. Jeder kann sich bedienen. Also habe ich meine Wasserflaschen aufgefüllt. In Spanien unterwegs, fühle ich mich gesünder als in Berlin. Die kleinen Gemeinheiten des Alters spielen plötzlich keine Rolle mehr. Wobei das Wasser mir hilft? Ich weiß es nicht. Heilwässer sind immer für irgendetwas gut. In Andalusiens Supermärkten wird es in Plastikflaschen verkauft. Ob es das gleiche Wasser ist, das in der Quelle sprudelt? Sicher nicht, es wurde aufbereitet, verarbeitet und in PET-Flaschen gefüllt. Es kann nicht die gleichen energetischen Schwingungen besitzen Seit Lanjarón trinke ich täglich davon, denn Glasflaschen sind selten im Angebot. Wobei das Wandern hilft, das weiß ich ganz genau.
Die Busfahrt hinauf in die Alpujarras ist grandios. Die Straße steigt höher und höher, mit jeder Kurve auf ein höheres Level. Der Fahrer nimmt die engen Serpentinen in die Berge mit Schwung. Eine schmale Straße, ein breiter Bus; schaukelnd, schwankend und hüpfend über Bodenwellen. Die Kurven folgen immer dichter aufeinander, steigen, werden enger und winden sich. Die Straße liegt im Schatten eines Bergs, wird schmaler und lässt die sonnenbeschienene Ebene tief unten hinter uns zurück. Riesen müssen die Straße aus dem Berg gebrochen haben. Vom Busfenster aus kann ich das ganze Tal des aufgestauten Río Guadalfeo überblicken. Ein letzter Blick auf das Städtchen Orgíva, das kleiner und kleiner wird, bis schließlich nur ein heller Fleck im grünen Tal übrigbleibt. Wie ein Spiegel glänzt ein langgestreckter Stausee in der Abendsonne. Ausgestreckt auf einem Bergkamm gegenüber schläft Lanjarón, ein weißer Drache. Der Bus wechselt in den engen Serpentinen immer wieder die Richtung. Ständig ändert sich die Perspektive. In dicht aufeinander folgenden Haarnadelkurven fährt er einen ruckelnden Zickzackkurs. Kirmes für das Innenohr, Kino fürs Auge.
Ich frage einen Mann, der in einem Türeingang sitzt nach einem Hotel. Er antwortet mir, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Seine Antwort klingt wie ein Bergbach, der grollend über Steine ins Tal fließt, ganz nett, jedoch für mich ohne Bedeutung, denn ich kann die Wortgrenzen nicht erkennen. Im Fluss der Rede verstehe ich keine Sätze. Ein Hotel finde ich allein, in einer Seitenstraße, mitten im Ort. Es ist noch früh, aber die Bodega um die Ecke ist bereits gut besucht. Ich dachte, eine Bodega ist eine aus dem Fels gehauene Höhle, in der gewohnt wird oder in der Waren gelagert werden. Der Ort Sentenil, ganz in der Nähe, bietet beeindruckend, was eine Bodega sein kann. Mit Sicherheit kein Restaurant. Es ist laut an den Tischen, wo sich Familien und Kurgäste versammelt haben. In Spanien beginnt die freie Zeit des Tages erst nach acht Uhr abends. Meistens wird es dann sehr spät. Zum ersten Mal esse ich keine Tapas. Ich bin hungrig und zu ungeduldig, um nach einer Bar oder Tapería zu suchen. Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen und getrunken. Im Bus war mir bereits übel vor Hunger.
In Lanjarón hat das Wochenende begonnen. Ausflugsboom. Familien, Paare und beliebig zusammengesetzte Gruppen sind eingetroffen. Urlauber und Rehabilitanden. Es geht familiär und gesellig zu im spanischen Wochenendtourismus. Und laut, denn jeder will mitreden und mithören. Am Fuß der Alpujarras gibt es den Ausflug ins Grüne, an der Costa del Sol die Grenzen des guten Geschmacks. Selbst in der Masse bewahren Spanier die Form und eine gewisse Eleganz.

Die ersten Wanderungen durch Andalusien führten mich vor ein paar Tagen in die Axarquía und in die Sierra de Almijara, Landschafen im Hinterland von Málaga und Nerja, zu einem Parque Natural zusammenfasst. Jetzt bin ich wieder oben. Höher werde ich in meinem Leben wohl nicht mehr kommen. Die Massenbewegung, die jetzt den Mount Everest stürmt, widert mich an. Mittlerweile wagt China den Aufstieg auf den höchsten Berg der Erde. Ich wandere lieber allein. Solo quiero caminar! singt Paco de Lucia zu Flamencomelodien. Er hat Recht, denn Masse zerstört die Schönheit. Die Tourismusindustrie verdient, und es ist zweifelhaft, ob viel davon die Dörfer der Sherpa erreicht, die die Last des Himalayatourismus tragen und den Preis zahlen. Ich habe Nepal bereist und den Himalaya gesehen, den Aufstieg auf den Amlapura und Everest aber ausgelassen, weil der Trail in den 1980ern schon zu ausgetreten war. In meinem Alter sind mir Kondition und das Bedürfnis, Rekorde aufzustellen, abhandengekommen. Es gibt nichts zu beweisen, und Quantität ersetzt keine Qualität, höchstens Erlebnisse für einen rivalisierenden Vergleich. Masse und Umweltzerstörung gehen Hand in Hand und gefährden die Landschaften unseres Planeten. Bescheidenheit und Solidarität gewährleisten einen sanfteren Fußabdruck. Höher, weiter und schneller: kein nachhaltiger Weg.
Die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada scheinen zum Greifen nah. Mir genügt es, in der Höhe von Mittelgebirgen zu wandern, und die vereisten, lebensfeindlichen Gipfel der Sierra Nevada aus der Ferne zu bestaunen. Morgen beginnen meine Exkursionen. Nur für den Genuss.
Drei Tage. Jeden Tag eine neue, eine ganz andere Wanderung. Las Alpujarras! Es hat gedauert, bis ich den Namen richtig aussprechen konnte. Wieder schwebt etwas Arabisches zwischen den Silben: Al, wie leicht das klingt! Beschwingt! Ein Lied könnte mit dieser Silbe beginnen. Ganz zuletzt, erst Ende des 15. Jahrhundert, unterlag das maurische Granada der Reconquista. Las Alpujarras! Eine der letzten interkulturellen Bastionen des Islams in Europa bevor die Mauren Andalusien für immer verließen. Ein Pass, der Suspiro del Moro, trennt Granada von den Alpujarras. Der letzte der maurischen Nasridenherrscher von Granada, Abu `Abd Allah Muhammed, den seine katholischen Gegner Boabdil nannten, soll sich auf der Flucht umgewandt und geweint haben, als er auf das verlorene Granada und die Alpujarras zurückschaute, damals, als die die maurische Herrschaft auf der iberischen Halbinsel für immer beendet wurde und das Christentum sich auf den letzten Resten einer großartigen Kultur ausbreitete, deren Wesen es nicht verstanden hat; zuallerletzt zum Wohl der Menschen. Solche Legenden erzählt man sich in diesem Zusammenhang immer. Es ist landschaftlich beeindruckend, über diesen Pass in die große Ebene hinabzufahren, in sich der Granada ausbreitet, die Stadt der zwei Hügel, auf der anderen Seite, zu Füßen der Sierra Nevada.

Im Schatten der Sierra Nevada zu wandern, hoch hinaus, kostet Kraft. Auf Maultierpfaden, die bis in die maurische Epoche Spaniens zurückreichen. Über das sprichwörtliche Stock-und-Stein. Sich vorzustellen, wie Briganten, Rebellen und Schmuggler auf geheimen Pfaden durch die Berge geschlichen sind. Hemingways Wem die Stunde schlägt kann sich auch in diesen Bergen ereignet haben. Pampaneira, Bubión und Capileira heißen drei Ortschaften, die wie weiße Flecken auf den grünen Hängen liegen. Gute Basislager für Tageswanderungen. Architektur und Siedlungsweise dieser Dörfer sind im Westen Europa ungewöhnlich. Sehr arabisch, fast nordafrikanisch. Kubische Bauten, strahlend weiß gekalkt, mit kleinen Fenstern, ein Pueblostil, aneinander gebaute, viereckige Häuser wie Würfel oder Boxen, mit Flachdächern, an engen Gassen mit schmalen Kanälen, in deren Mitte das Wasser bergab fließt. Und das bereits in einer Zeit, in der Unrat in den Straßen mittelalterlicher, christlicher Städte zum Himmel stank, die hygienischen Zustände katastrophal waren. Die iberischen Mauren verstanden es, die Hinterlassenschaften Roms zu bewahren und weiter zu entwickeln. Nebenbei bemerkt: Sie bewahrten die Philosophie des Aristoteles vor dem fanatischen Zugriff der frühen Christen. Viele der Häuser sind mit überdachten, bewohnten Durchgängen verbunden, dem auch in Nordafrika verbreiteten Taneo. Drei andalusische Pueblos Blancos. Sie erinnern an Nester einer Vogelkolonie, die sich gemeinsam schützend an die Flanken der Berge schmiegen, die hinab in eine tiefe, dunkle Schlucht stürzen. Am Grund fließt der Río Poquiera. Die drei Orte liegen übereinander auf Terrassen, der nächste immer etwas höher.
Ich wohne in Bubión, in der Mitte, im kleinsten der Dörfer, auf 1600 Metern. An der Hauptstraße einige Pensionen und Restaurants. Eins davon zieht mich besonders an, weil es schon auf der Terrasse lebhaft zugeht, wo die Raucher stehen. Im Durchgang vor der Bar herrscht Gedränge, das Nebenzimmer wartet auf die Gäste, die vornehmer zu Abend essen wollen. Menu del Día, das Tagesgericht. Die Entscheidung ist nicht schwer: Ich bleibe und esse gleich am Tresen, eingebettet zwischen Gesprächen und TV. Kaninchen steht auf der Tageskarte. Conejo ist eines der ersten spanischen Worte, die ich lernte. Ich fand es in einer Reiseerzählung von Carmen Rohrbach, über ihre Erlebnisse auf dem Camino Francés. Ich lebe vegetarisch, was im ländlichen Spanien nicht immer eine zu bewältigende Herausforderung ist. Mein letztes Kaninchenfleisch habe ich als Jugendlicher gegessen. Mein Vater züchtete sie und brachte sie immer selbst geschlachtet mit nach Hause. Als Kind habe ich einmal gesehen, wie er eins der Tiere mit einem Stock erschlug, es an die Tür nagelte und ihm mit schneller Hand das Fell abschlug. Ich war entsetzt über so viel Brutalität, doch nur einen Moment lang. Geschmeckt hat mir das Fleisch trotzdem. Mein Vater war Bauer, und das Kaninchen von Bubíon fand während einer Jagd seinen Tod. Jetzt weiß ich, dass Essen nicht nur etwas mit Geschmack, sondern auch mit Ethik zu tun hat; mit Tierrechten, Klimaschutz und Gesundheit. Jahrtausende eingeübte Gewohnheiten und rigide Überzeugungssyteme, psychisch tief verankert, bringen jährlich weltweit Milliarden Tieren den Tod. Meine Mutter legte die Kaninchen, die mein Vater brachte, gewürzt über Nacht in Milch ein. Gebratenes Kaninchen war ein Familienritual, besonders an Feiertagen, wie der Truthahn zu Thanksgiving. Andere wurden an die Nachbarn verkauft. In den Alpujarras sind Kaninchengerichte eine lokale Spezialität. Doch das erfuhr ich erst viel später.
Kaum zu glauben. Einst war Bubión das maurische Verwaltungszentrum der Alpujarras. Ein verschlafener Ort, während Pampaneira und Capileira den Tourismus feiern. Was machen die vielen Besucher alle? Auf den Pfaden in den Bergen habe ich nur vereinzelt andere Wanderer getroffen. Morgen früh gehe ich von Bubión nach Bubión, und dazwischen noch höher hinauf in die Alpujarras. Tageswanderungen im erweiterten Nahraum. Neue Berglandschaften mit faszinierenden Ausblicken über die Gipfel hinweg und hinab in die Tiefe. Vor allem aber in die Weite, über Berge mitten ins Blaue. Die intensive Stille auf den Gipfeln, der erste Augenblick, wenn das Blut vom Aufstieg noch in den Ohren rauscht, und ein tiefer Atemzug die Brust weitet, während die Endorphine das Übrige tun, angefüllt mit inneren Klängen. Die Dichter der Romantik haben der Natur ihre Poesie mit ihrem eigenen Leib abgespürt. Ihr Genie hat das Gespürte ins Wort gebannt. Niemand hat die Magie von Berg und Wald schöner geschildert als Eichendorf und Stifter. Was bringt diese Emotionalität als Haltung in eine postmoderne Welt zurück? Den Kontakt zur Natur zu verlieren, kostet uns die Seele. Wir laufen alle Gefahr, ein Alberich oder ein Holländer-Michel zu werden.

Es ist Nachmittag. Ich sitze auf einer kleinen Plaza in einem kleinen Dorf. In Capileira, in der Sonne. Umweht von einem kleinen Wind, kaum eine kühle Brise. Den ganzen Tag ist er anwesend, und manchmal wird er mir zu kalt. Erst spät am Nachmittag, wenn die Sonne sinkt, legt er sich mit ihr zur Ruhe. Wer denkt, die Costa del Sol ist nur Strand und Massentourismus, der irrt. Gleich jenseits des zwei bis drei Kilometer breiten Küstenstreifens geht es hoch hinauf in die Berge, in die Sierras mit ihren geheimnisvollen Namen, viele von ihnen Naturschutzgebiete. Schnell bin ich tausend Meter hoch. Die höchsten Gipfel in der Sierra Nevada sind Dreitausender, auf denen noch Schnee liegt. Das verkündet bereits der Name: Nevada. Ein Bundesstaat der USA heißt so. In Andalusien treffe ich auf viele aus dem Südwesten Nordamerikas geläufige Namen. Ich stelle mir gerne vor, Migranten aus Andalusien haben den ganzen Süden Nordamerikas, von Florida bis California, in Besitz genommen und benannt. Die Landschaften und Orte haben sie nach ihrem Geschmack umbenannt, um sich die verlorene Heimat zu ersetzen. Nördlich von Sevilla begegnete ich vor einem Jahr einem anderen Andalusien; grüner und bewaldeter. Stundenlang wanderte ich von einer Dehesa in die nächste. Auf roten Wegen, unter dem dunkelgrünen Laub der Stein- und Korkeichen. Durch Olivenplantagen und über Weiden. Der Kuckuck war allgegenwärtig, und fremde Vögel sangen ihr Lied für mich. Laubbäume gibt es im südlichen Andalusien kaum, wenn überhaupt, dann nur vereinzelt. Einsam krallen sie ihre Wurzeln in die steilen Hänge. Nadelbäume, Pinien und Kiefern sind verbreiteter, aber je höher ich komme, weichen sie auch. Zuletzt bleibt ein einsamer Baum auf der Höhe, eine dramatische Silhouette vor einem weiten Himmel. Ohne Bäume zu sein, fällt mir schwer, doch gelegentlich entschädigt mich ein berauschendes Bergpanorama für den Verlust. Berg folgt auf Berg, sie überschneiden sich, laufen in parallelen Reihen nebeneinander her, liegen hintereinander, überragen sich, die niedrigen versinken hinter den hohen. Tief eingeschnittene Täler, von oben betrachtet ein V mit flach gedrückter Spitze, trennen den einen Höhenzug vom nächsten. Teilweise spitze Winkel, wenn die Natur, die Meisterin des Runden, Weichen und Gekrümmten, denn so etwas zulässt. Wenn auch nicht lotrecht oder in geraden Linien, so stürzen die steilen Hänge der Alpujarras beinahe senkrecht in die Tiefe. Im Talgrund, in den engen, von Unterholz und Dickicht fast versperrten Klüften, fließen Flüsse, deren spärliche Wasser über rund geschliffene Felsen sprudelt. Hat man sich erst einmal einen Weg hinab gebahnt, sind sie einfach zu queren, denn es ist viel zu trocken in Andalusien. Es gibt immer genug Trittsteine oder flache Passagen in den Flussbetten, Kiesbänke oder den einen oder anderen zwischen Steinen eingeklemmten Ast. Abwechselnd geht es auf und ab. Nirgendwo ist der Pfad eben. Den geraden Weg gibt es nie. Meistens sind die Wege nur steigende, steinige Pfade. Auf der einen Seite fällt der Hang beinahe senkrecht in die Tiefe, auf der anderen steigt er genau so steil an. Zwischen beiden schlängeln sich schmale Passagen am Hang entlang. Mehr Steigen als Wandern, über Geröll und Fels. Pfade für Maultiere und für Ziegen, die mühsam, aber aufregend zu begehen sind.

Bandoleros! Andalusische Banditen! Sie operierten bis ins 19. Jahrhundert in den Bergregionen Andalusiens. Sie fanden Zuflucht in den schwer zugänglichen Bergen. Geächtete, aus dem Rechtssystem einer Gesellschaft Ausgestoßene. Wer gesetzlos war, war sozial und zivil tot. Niemand durfte ihm Nahrung, Unterkunft oder andere Unterstützungen anbieten, wollte er nicht der Beihilfe schuldig sein und hart bestraft werden. Ein Gesetzloser konnte ungestraft getötet werden. Dass war kein Mord, sondern ein Verdienst an der Gemeinschaft. Ein archaischer Brauch, ohne Gerechtigkeit, Moral und Humanität. Wir empfinden das so. In anderen Zeiten galten andere Regeln, die sinnvoll waren, auch wenn sie uns abstoßend erscheinen. Im Andalusien des 18. Jahrhunderts war es üblich, Menschen, die gegen die geltenden Eigentumsnormen verstießen, aus der Gemeinschaft auszustoßen. Auch im Kapitalismus werden Diebe sozial gebrandmarkt, nur eben auf eine andere Weise, auf eine, die wir für human halten. Die Brutalität eines sozialen Todes ist nur schwer nachfühlbar. Menschen sterben an dieser Strafe, oder werden verrückt, wenn sie keinen Weg finden, sich dagegen aufzulehnen. El Bandido Generoso, mit bürgerlichem Namen Diego Corrientes Mateos, war ein Vogelfreier. Mich berührt es seltsam, das entbehrungsreiche Leben eines Banditen für vogelfrei zu halten; eher für bindungsfrei. Der großzügige Bandit wurde am 20. August 1757 in Utrera, in der Provinz Sevilla, geboren, und einen Tag später in der damals schon alten Iglesia de Santiago auf die Namen Diego Francisco Bernardo getauft. Seine Biografie ist wenig bekannt und rätselhaft, sodass man sie mit legendarischen Zügen ausschmückte. Diego Corrientes stammte aus der andalusischen Arbeiterklasse, der er sein Leben lang verbunden blieb. Es war deren unterprivilegierte Situation, die ihn schließlich zum Anführer einer Gruppe von Outlaws und zum Dieb machte. Die volkstümliche Überlieferung schildert ihn als einen Banditen mit außergewöhnlichen Mut, Schlauheit, von großen Geist, Lebendigkeit und bewundernswerter Stärke, Eigenschaften, die er zum Wohl der Armen einsetzte, und die ihn zum altruistischen Helden stilisieren. Berühmt ist seine erbitterte Fehde mit Don Francisco de Bruna, dem Regenten von Sevilla, der ihn bis zu seinem Tod erbittert verfolgte. Er erließ ein Edikt, das jede Person ermächtigte, Diego Corrientes gegen eine Belohnung zu töten oder zu verhaften. Mit dem großzügigen Banditen sind auch eulenspiegelhafte Motive verbunden. So trat er verkleidet in Sevilla auf, präsentierte sich in einer Ausstellung und übergab sich selbst dem Regenten de Bruna. Einmal sollen sich die beiden auf einer Brücke in der Nähe von Utrera getroffen haben, wo der Bandit den Adeligen vorgeführt hat und ihm die Schuhriemen zusammenband. Legendenbildung und Heroisierung haben nichts mir der historischen Realität zu tun, in der der Bandit wie ein Staatsfeind gnadenlos verfolgt wurde. 1780 bot Karl III. von Spanien jedem, der Diego Corrientes tot oder lebendig gefangen nimmt, hundert Goldstücke Belohnung. Nach einem Hinweis wurde er in Cobillán (Badajoz) gefangen genommen und festgesetzt, konnte aber nach Portugal fliehen. Auch in Olivenza, in Portugal, wo er sich in einem Bauernhaus versteckt hielt, wurde er angezeigt. De Bruna musste hundert Männer senden, denen es schließlich gelang, ihn gefangen zu nehmen und nach Sevilla zu überführen, wo er vor Gericht gestellt wurde. Von juristischen Unregelmäßigkeiten im Auslieferungsprozess von Portugal nach Spanien ist die Rede. Am 30. Mai 1781 wurde er in Sevilla gehängt und anschließend gevierteilt. Seine Körperteile wurden in den Straßen ausgestellt, sein Kopf in einem Käfig aufbewahrt, bis er schließlich in der Kirche San Roque beigesetzt wurde. Das finstere Mittelalter reicht bis in der Neuzeit. Corrientes Schädel, in den ein Metallhaken eingesetzt war, wurde im 20. Jahrhundert bei Restaurierungsarbeiten der Kirche gefunden. Ein Leben als Modell, mit allen Klischees, historischen Splittern und Erfindungen, die es braucht, einen Helden zu kreieren. Die Furcht, die der andalusische Feudaladel vor Männern wie ihm hatte, denen der Sturz eines ungerechten System zugetraut wurde, äußert sich in diesen Überlieferungen. In der Geschichte der andalusischen Bandoleros ist El Bandido Generoso der idealisierte Archetypus eines Robin Hood, der den Reichen nahm, um den Armen zu geben. In der Legende, die sein kurzes Leben fiktionalisiert, haben Romanzen und Anekdoten eine größere Bedeutung als die historische Realität. Was ihn über den Tod und die Zeit hinaus sympathisch macht, und ihn von anderen andalusischen Banditen unterscheidet, ist eine weitere Charaktereigenschaft: er ist ein gewaltloser Bandolero, der nie Blut vergossen hat. Anders als seine Nachfolger, auch seine literarischen. Die berühmtesten sind Robin Hood und Zorro, die in die Rolle eines Banditen schlüpften, um Ungerechtigkeiten zu rächen, verewigt in Hollywoods Filmen, beginnend mit Douglas Fairbanks, zuletzt mit Russell Crowe. Diego Corrientes ist eine authentische, historische Persönlichkeit aus der Unterschicht der spanischen Landarbeiter, dessen Taten in der Kunst weiterleben, in wissenschaftlichen und belletristischen Werken, in Büchern und Groschenheften. Er wurde in vier Filmen porträtiert, darunter zwei Stummfilmen. Die jüngste Regiearbeit, ein spanischer, historischer Abenteuerfilm aus dem Jahre 1959, von Antonie Isai-Isasmendi, widmet sich aufs Neue dem Leben des Straßenarbeiters Diego Corrientes Mateos.

Wer zu Fuß durch diese Berge geht, ist ihr unmittelbarer ausgeliefert als jemand, der zwischen seinen vier Wänden lebt. Oft anstrengend, und wäre da nicht das anregend Fremde, die Begeisterung, geschürt von Endorphinen, die in meinem Blut manchmal wie ein schäumender Bergfluss fließen, über Felsbrocken und Stromschnellen, in jagender Talfahrt, ich würde zu Hause bleiben. Nicht selten bin ich körperlich erschöpft. Das Alter ist gnadenlos. Dann schaffe ich es nur noch zum Essen und ins Bett und erst am frühen Abend bin ich wieder zu gebrauchen. Doch das Erlebnis ist unvergleichlich und wiegt alle Missempfindungen auf. Und dann muss ich wieder hinaus. Es ist etwas Besonderes, auf Maultierpfaden zu wandern, die seit Jahrhunderten benutzt werden. Alte Pfade, wissende Pfade. Das bietet kein Museum. Gegen schmerzende Füße und meckernde Knie gibt es Hilfsmittel: Stöcke und Bandagen. Und dann bin ich viel zu plötzlich in Granada. Nach Tagen in abgelegenen weißen Dörfern und auf einsamen Bergpfaden. In einer großen Stadt, in der Menschen und ihre Wohnungen an asphaltierten Straßen den Ton angeben, wo die Natur ein Schattendasein führt, und die Schluchten zwischen den Häusern rechteckig sind. Doch es gibt Steigungen genug. Ich bin um fünf Uhr morgens aufgestanden, um den Bus aus den Bergen zu nehmen. Ein zweiter Bus verlässt Bubión erst am späten Nachmittag. Zu spät, um in Granada einzutreffen. Früh aufzustehen ist für mich immer eine Herausforderung. Ich gehöre nicht zu den Wanderern, die mit Im Frühtau zu Berge auf den Lippen bei Sonnenaufgang aufbrechen. Ich bin eine Eule, und ein schöner Nachmittag und verzaubernder Sonnenuntergang sind mehr nach meinem Geschmack. Doch wenn es darauf ankommt ...!
Verschlafen und bepackt, mit Augen, die nicht aufbleiben wollen, stehe ich im morgendlichen Betrieb einer großen Stadt. Wieder einmal orientierungslos. Nach der Ruhe und Einsamkeit der Bergwelt, der Unaufgeregtheit der Dörfer, Tage, in meinen eigenen Rhythmus, ist Granada ein fast unerträglicher Kontrast. Aber ich muss Granada unbedingt sehen, vermutlich komme ich der Stadt der Alhambra so schnell nicht näher. Jetzt weiß ich nicht einmal mehr, ob das Timing passt. Ich habe ein Bett in einem bescheidenen Schlafsaal gefunden, im Stadtteil Albaizín, dem alten maurischen Granada auf dem Hügel gegenüber der Alhambra. Verwickelte, enge Gassen und kleine Plätze, die eine melancholische Stimmung ausstrahlen. Von der Kathedrale über die Plaza Nueva gehe ich den steilen Hügel hinauf, vorbei an Bars, Restaurants und Souvenirshops. Ich dränge mich zwischen Touristen hindurch, die lässig durch die Gassen bummeln, immer wieder stehen bleiben, in Schaufenster schauen oder einen Stadtplan zücken. Der Albaizín ist das Zentrum des nächtlichen Granadas: die Calle Panaderos, zwischen der Plaza Larga und der Plaza de Abad. Eine Vergnügungsmeile feiernder und ausgelassener Touristen, die nie zur Ruhe kommt. Es sind immer wieder die besonderen Orte, die mit historischer und ästhetischer Bedeutung, über die der Massentourismus herfällt. Sie sind das andere seiner heimischen Alltagswelt, eine verwirrende Fremde, ein unvertrautes Terrain, das seine kulturellen Regeln außer Kraft setzt, und ihn rauschhaft enthemmt. In dieser regellosen Blase verhalten sich viele Touristen unangemessen und respektlos. Wir waren nur zu zweit, in einem Schlafsaal mit acht Betten. Ich hätte es schlechter treffen können, und habe eine exzellente Gesellschaft. Ein Radwanderer aus Hongkong, der seit zwei Jahren in der Welt unterwegs ist. Ein Gitarrist, der in Granadas Straßen spanische Musik studieren will. Gute Unterhaltung und ein kostenloses Konzert. Ein Chinese, der Flamenco spielt und mir Vorträge über Spielweise und Traditionen hält, in gebrochenem Englisch, von dem ich das meiste vergessen habe. Irgendwann muss ich den Schlafsaal verlassen, denn ich kann ihn nicht mehr ertragen, so sehr redet er auf mich ein. Unsere Unterhaltung ist schon lange kein Gespräch mehr. Interessante Menschen wie ihn trifft man nicht in den Hotels, sondern auf der Straße und in den preiswerten Herbergen, in denen sich auch die Wanzen wohlfühlen. Plötzlich werde ich traurig, vielleicht liegt es an der Musik, aber ich vermisse die Pilgerwege so sehr, dass es schmerzt. Diese unvergleichlich durchmischte Community von Menschen aus aller Herren Länder, Persönlichkeiten jeglicher Couleur. In diesem Jahr wandere ich allein. Natürlich ist auch das ländliche Spanien keine Idylle, nicht rein und unschuldig, denn die Sünden der Konsumgesellschaft lauern in manchen Ecken. Spanien ist ein Fleischland. Es ist schwierig, mich vegetarisch zu ernähren. Auch heute Abend breche ich wieder meine Regeln. In Spanien leben nur 1,2 Prozent der Bevölkerung vegetarisch; nur 0,2 Prozent ernähren sich vegan. Viele ökologische Probleme lassen sich einfach lösen, wenn die Menschen ihr Verhalten der Natur und ihren Mitgeschöpfen gegenüber verändern würden. Wir hinterlassen den kommenden Generationen massive Einschränkungen, gegen die unsere aktuellen Probleme ein Sonntagnachmittagspaziergang sind. Vielleicht führt aktuelle Blick auf den eingetroffenen Klimawandel zu einer neuen, ökologisch nachhaltigeren Lebensweise, in der die Menschen neue Werte entdecken und ihr Verhalten ändern. Eine Rückkehr, zu den Tugenden der Bescheidenheit, des Verzichts, des Altruismus und der Demut, scheint nur noch auf diesem Wege möglich.

Es ist Frühling. Unaufhaltsam drängt sich die Jahreszeit ins Freie. Auch in Granada. Der Regen der frühen Vormittagsstunden ist längst Geschichte. Die Sonne lacht, und es ist angenehm warm. Der kalte Wind scheint sich mit dem Ostervollmond zu verabschieden. Auf dem Albaizín wird ohne Ende flaniert, gebummelt und genossen; bis alle Kapazitäten kollabieren. Wie bin ich nur auf die Wahnsinnsidee gekommen, über Ostern in Granada zu sein. Ich gebe den Flaneur in der Altstadt und den Stadtwanderer zurück zu meinem Quartier ins moderne Granada. Ich bemühe mich nach Kräften, mich in der Stadt zu verirren. Ich gehe und gehe, kreuz und quer durch die Stadt, gehe durch alle Gassen und Straßen, die sich öffnen, auch in die verstopften Gassen rund um die Kathedrale, und über die Prachtstraßen mit ihrem mondänen Konsumangebot. Ich steige hinauf zur Alhambra, mische mich unter den Ansturm der Besucher, sitze enttäuscht vor der Alcazaba, für die ich keine Reservierung habe. Wochen im Voraus muss eine Besichtigung gebucht werden, am besten online. Aus dem gleichen Grund bin ich nicht auf dem Caminito del Rey gewandert, einen drei Kilometer langer Klettersteig, bis vor seiner Restaurierung 2015 der gefährlichste der Welt. Nun ist der Königsweg ein Caminito, ein kleiner Wanderweg, und hoffnungslos überlaufen. Trotzdem bleiben die Schluchten, durch die er führt, eine spektakuläre Landschaft. Ein schwindelerregender Wanderweg in bis zu zweihundert Meter Höhe auf hölzernen Planken eng entlang steiler Wände und über steinere Brücken. El Chorro, früher ein Paradies für Kletterer, und immer noch nichts für Agoraphobiker. Der Kanal, tief unten in der Garganta del Chorro genannten Schlucht, gehört zu einem Projekt des Ingenieurs Rafael Benjumea y Burín zur Nutzung der winterlichen Niederschläge, zu dem Rohrleitungen, Talsperren und Wasserkraftwerke gehören. Durch den Kanal in der Garganta del Chorro fließt vom Río Guadalhorce abgezweigtes Wasser, das zwei Talsperren miteinander verbindet. Seit mir Brigitta vor zwei Jahren von diesem Weg erzählt hat, träumte davon, ihn zu begehen. Jetzt kenne ich die Wirklichkeit und bin enttäuscht. Ich erinnere mich daran, solche Orte zu meiden. Wo alle hingehen, gibt es nichts mehr zu erleben. Brigitta traf ich auf dem Camino Primitivo, kurz hinter Oviedo, auf einer Bank, wo sie ihre schmerzenden Füße versorgte. Kurz darauf humpelte sie in die Bar, in der ich am Tresen saß, rief mit naiver Selbstverständlichkeit der spanischen Wirtin und den Gästen ihr Hello! und A Coke please! zu. Danach hatten wir immer wieder lustige Begegnungen. Erst hunderte Kilometer später, in Fisterra, haben wir uns aus den Augen verloren. Sie flog ohne Vorausbuchung nach Málaga. Ob sie es auf den spektakulären Weg zwischen den Felswänden von El Chorro geschafft hat? Ich schmuggele mich im Schutz einer Führung mit in den Renaissancepalast von Karl V., dem Monarch, von dem es heißt, er beherrschte ein Reich, in dem die Sonne nie unterging. Sein Palast ist ein in Stein gegossenes, kosmisches Symbol der Macht: ein Viereck, dessen Inneres ein Kreis ist, ein runder, mit einem Mosaik verzierter Platz, ein Symbol für Himmel und Erde, umgeben von einem Arkadengang. Ich gehe hinüber nach Sacromonte, in das ehemalige Zigeunerviertel, noch immer eine der Hochburgen des Flamencos. Überreste der in den Berg gegrabenen Kavernen, in denen im 18. Jahrhundert zusammengedrängt die Familien der Ärmsten lebten; den Bodegas. So überliefern es die frühen Reisenden in ihren Schriften. Es lohnt sich, nach Sacromonte hinauf zu gehen, denn der Blick auf die Alhambra, und die schneebedeckte Sierra Nevada, die sich hinter der Burg erhebt, ist nirgendwo schöner. Einfach immer weitergehen und ausreichend abbiegen lautet meine Empfehlung für eine Stadtwanderung in Granada. Die Gassen sind eng und schmal, verwinkelt genug, um schnell genug die Orientierung zu verlieren, wenn ich mich nicht auf Weg und Richtung konzentriere. Drei Tage wandere ich durch die Stadt. Flaniere, soweit das möglich ist, sehe und staune, sitze und raste, frage und rede. Überall ist es überfüllt. Feiertage. Die Spanier sind keine Stubenhocker. Die meisten Wohnungen sind klein, das Leben findet draußen statt. Subtrahiere ich den internationalen Tourismus und lasse nur den spanischen übrig, dann erinnert mich Granada an Sevilla. En miniature an Mérida, noch eine Stufe kleiner, an Zafra, das Sevilla Chica. Alle sehr schöne Städte, sehr spanisch, jedenfalls was ich darunter verstehe. Ich sitze auf einer großen Plaza auf einer Bank in der Sonne, um mich aufzuwärmen, denn der Wind weht wieder kalt. Alles um mich herum, so spanisch, wie es eben geht. Ich kann sie aus allem herausspüren, diese Atmosphäre, ohne sie genau beschreiben zu können: sie ist lebhaft, flirrend, temperamentvoll. Kein anderes europäisches Land besitzt dieses Flair. Ich habe die Tapería gerade erst verlassen, schon beginnt es zu regnen. Wo ist die nächste Bar, die nächste Cafetería? Doch die wenigen, die sich zwischen den zahlreichen Restaurants verstecken, sind schnell überfüllt. Ich quetsche mich in die erste Bar am Weg und hoffe, dass es schnell wieder aufhört zu regnen. Aber nun ist er da, der Regen, der den ganzen Tag mit dunklen Wolken von der Sierra Nevada herüberdrohte. Doch ich habe einen Platz im Trockenen gefunden, unterhalte mich, notiere und trinke ein weiteres unfreiwilliges Bier. Bummeln plus Trödeln gleich Flanieren. Was gibt es Schöneres? Wie ist die Menschheit nur auf den Arbeitsalltags-Wahnsinn verfallen? Es ist die Gier, eine der sieben Todsünden, das ultimative Böse. Die Gier korrumpiert immer mehr Menschen. Denn sie ist niemals satt? Niemals!



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