Sonntag, 26. April 2020

Museo del Bandolero


Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns,
daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens
, [...] Dauern
ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig
nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild
seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige.

Rainer Maria Rilke

Ronda ist eine besondere andalusische Stadt mit einer äußerst bemerkenswerten Brücke, El Puenta Nuevo, die den Ort in zwei Städte trennt: in ein altes, historisches Ronda der dekadenten Architektur, der verwinkelten Gassen und Plätze sowie in das merkantile, das neue, mit moderner Infrastruktur. Ein Ronda, in dem ich für einen Moment aus der Zeit gefallen bin, ein anderes, das in meine Zeit gehört. Ich kam vom Cabo de Gata mit dem Bus hierher, für eine Nacht, auf dem Weg in die Serranía de Ronda, um zu wandern, eine Berglandschaft, die zur Sierra de Grazalema und Sierra de las Nieves gehört, und die im Süden an den Naturpark Los Alcornocales grenzt. Die malerischen, fremd klingenden Namen faszinierten mich aufs Neue und lockten mich zurück in die andalusischen Berge, nordwestlich der Alpujarras. Doch Ronda hielt mich ein paar Tage lang gefangen.
Meine Zeit in Ronda war fast vorbei. Es bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Abfahrt nach Grazalema. Ich hatte die Wohnung verlassen, den Schlüssel in den Briefkasten geworfen und den Rucksack auf den Schultern. Ich ging die Straße hinab zur Stadtmauer und hinauf zur Brücke über die Tajo-Schlucht. Noch einen letzten Blick in die Tiefe, schwindelerregend und weit in die Landschaft, wollte ich mitnehmen. Abschied! Über die Brücke und hinein nach El Mercadillo, zur Estación de Autobuses in die Neustadt. Auch an diesem Morgen drängte ich mich zwischen die zahlreichen Besucher an die Brüstung der Sehenswürdigkeit, mir schmerzlich bewusst, dass die schönsten Orte Welt zu einem Massenerlebnis geworden sind. Das unbestimmte Gefühl, etwas vergessen zu haben, ließ mich zögern. Vielleicht schlich sich in diesem Augenblick etwas in meine Wahrnehmung, bewusst kaum zu fassen, dazu war die Berührung viel zu sanft. Ich dachte an das Museo del Bandolero, und bedauerte plötzlich, es ausgelassen zu haben. Die Kaffeehäuser, in welchen in später Nachtstunde sogenannte Flamenco-Gesänge vorgetragen oder Flamenco-Tänze aufgeführt werden, sind von Damen durchaus zu meiden, von Herren höchstens in Begleitung Einheimischer zu besuchen, schrieb Karl Baedeker 1899 in seinen berühmten Reiseführer. Spanien muss gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein gefährliches Land gewesen sein, für Reisende eine unsichere Zeit. Das kleine Museum der Straßenräuber in Ronda hat sich einem numinosen Phänomen dieser Epoche angenommen - faszinierend und erschreckend zugleich - und weiß diese bunt zu illustrieren. Auf eine Weise, die nicht so recht ins 21. Jahrhundert passen will. Beharrlich verweigert sich dieses museale Refugium zeitgenössischer Museumspädagogik. Doch gerade in dieser mangelnden Moderne liegt der Charme dieses Ortes, der sich einer puren rationalen Analyse seines Gegenstands verweigert, dafür Fiktion und der Fantasie breiten Raum lässt. Ein Ort, um aus der nackten Wirklichkeit in die Welt des Märchens und der Legende einzutauchen. Ein Ort, an dem der Besucher für eine Weile eine andere Welt betritt. Böse Zungen würden es eins dieser Raritätenkabinetts nennen, wo Exotika aus aller Herren Länder wahllos versammelt werden. Ich weiß es besser: Ich habe einen Ort gefunden, den es nicht zweimal gibt, einen dieser besonderen Momente einer gelungenen Reise. Auch wenn dieser Ort, ein solch exotisches Detail, in unserer tragischen Zeit, in der das Schicksal der Menschheit sich ein weiteres Mal in seiner Geschiche auf den schmalen Grad begibt, zwischen bewahren und verändern, nur schwer Relevanz erwarten kann. Aber ehrlich: Tragen Banditen und Straßenräuber inzwischen nicht nur ein anderes Gewand?
Auf dem schmalen Bürgersteig der Calle Amiñiàn versperrte mir ein Werbeaufsteller den Bürgersteig, ein schreiend buntes Plakat, dass an die Abenteuerfilme der 1960er Jahre erinnert. Das Bild eines verwegenen Konterfeis machte auf einen Seiteneingang aufmerksam, auf eine schmale Tür in einen beleuchteten Gang, der leicht zu übersehen ist. Den Eintretenden erwarten die ersten Exponate, Flyer und ein Souvenirstand. Nur wenige Besucher der mit Neugierigen gefüllten Stadt verirren sich hierher. Ein Ticketschalter am Eingang, eine schmale, hölzerne Stiege mit Geländer, ein halbes Dutzend Stufen vielleicht, hinauf in die erste Etage. Der erste Eindruck eines beschaulichen Museums im Traum einer Zeit gefangen, die so gründlich verschwunden ist wie eine ausgestorbene Spezies: eine geheimnisvolle Pforte in eine untergegangene Kultur. Ronda hat den andalusischen Banditen ein Museum gewidmet, die im 19. Jahrhundert in der schwer zugänglichen Serranía de Ronda einen sicheren Ort vor dem Zugriff der Obrigkeit hatten. Der französische Maler und Grafiker Gustave Doré, einer der französischen Reisenden der Romantik, hat eine Reihe von Druckgrafiken hinterlassen, die das wilde und freie Leben der Bandoleros idealisieren. Seine Grafiken empfangen den heutigen Besucher, der die wenigen Stufen ins Obergeschoss hinaufgestiegen ist, wie ein düsteres Präludium dessen was bevorsteht. Nichts ist mehr wie zu der Zeit von Dichtern und Schriftstellern wie Lord Byron, Prosper Mérimée oder Théophile Gautier, die zur illustren Gesellschaft der Andalusienreisenden gehörten, die an Ronda nicht vorbeikamen. Erschöpft und gelangweilt, von einem Überdruss an Modernität, reisten sie an einen Sehnsuchtsort. In diesen Tagen war Andalusien unter Künstlern en vogue. In ihrer Fantasie, in ihrem romantischen Schwärmen, war diese wilde Berglandschaft, die weite Ausblicke auf ein blaues Meer in der Sonne möglich machten, und in der weiße Dörfer wie Nester an den Hängen klebten, das Andere ihrer Kultur. Repräsentant ursprünglicher Unberührtheit und Exotik. Afrika war nie weit und ist bis heute spürbar. In seiner Essaysammlung Der Umweg nach Santiago meint Cees Noteboom, einer der modernen Hispanophilen, dass das Vergangene in Spanien in allen Ritzen lauert. An manchen Orten der Erde erhält auf geheimnisvolle Weise die eigene Ankunft oder Abreise durch die Empfindungen all jener eine besondere Intensität, die hier früher einmal angekommen oder abgereist sind. Bevor ich Ronda sah, die Vielbereiste, wusste ich nichts über die Stadt, deren Tourismus bis in die europäische Romantik zurückreicht. Rainer Maria Rilke, der die zweigeteilte Stadt über der Schlucht unvergleichlich nennt, schrieb hier im Winter 1912 an seiner sechsten Duineser Elegie. Wer will kann das Hotelzimmer besichtigen, in dem er gewohnt hat. Doch wozu, wenn das Inspirierende Ronda selbst ist. Orson Welles, der verfügte, seine Asche in Ronda in den Wind zu streuen, stierkampfbegeistert und spanienverrückt wie Ernest Hemingway, der in seinem Roman Fiesta der jährlichen Fiesta de San Fermin im baskischen Pamplona sowie dem spanischen Corrida ein Denkmal setzte. Nur die Fantasie weniger Besucher lässt sich im 21. Jahrhundert noch mit solchen Bildern locken. In Ronda hatte ich an diesem Tag die Bandoleros für mich allein, während sich auf der Puente Nuevo das alltägliche Gedränge zur Aussicht einfand. Ich kann mich noch gut erinnern, eine andere illustre Gesellschaft.

Die andalusischen weißen Dörfer, die Pueblos Blancos, haben eines gemeinsam: Sie sind maurischen Ursprungs, liegen auf einem Berg, wie Inseln der Landschaft, mit engen, verwinkelten Gassen, schattig und ohne Autoverkehr. Wege, auf denen kaum Fahrzeuge dem Fußgänger sein Recht streitig machen. Ein großes Privileg in globalisierten Zeiten. In spanischen Städten, mit ihren viel zu oft von monströser Modernität umgebenen Altstädten, bewahren diese die ursprüngliche Atmosphäre dieser Dörfer. Doch die Gassen sind dort saniert und auch breiter. Dem unerbittlichen Verkehr ist es gelungen, in ihre Intimität einzudringen. Noch schwebt ein Hauch von Geschichte, Vergangenheit und Erinnerung zwischen den Häusern. Die zahlreichen Touristen, die von ihrem Reiz angezogen werden wie Bienen vom süßen Nektar einer späten Blüte, dienen ihrer Erhaltung, auch wenn es eine künstliche ist. Die umtriebige Kleinstadt Ronda, nordwestlich von Málaga, war einst eins der schönsten dieser Dörfer. So empfand schon Plinius.

Die Kleinstadt teilt eine gewaltige Schlucht, El Tajo de Ronda, durch die der Rio Guadalevín fließt. Drei Brücken überspannen El Tajo, die Puente Árabe, die Arabische Brücke, Puente Viejo, die Alte Brücke, und die im späten 18. Jahrhundert erbaute Puente Nuevo, die Neue Brücke. El Puente Nuevo ist ein atemberaubendes Brückenbauwerk, eine kühne architektonische Konstruktion, die den Rio Guadalevín in einhundertdreißig Metern Höhe überquert. Die Schlucht bildet die Grenze zwischen der maurisch geprägten Altstadt La Ciudad und El Mercadillo, dem jüngeren Ronda. Die Bogenbrücke ist das Werk des spanischen Architekten José Martin de Aldehuela, der in die Tiefe der Schlucht stürzte als der Wind ihm den Hut vom Kopf wehte, und er versuchte ihn wieder einzufangen. Sein Name beschwört die Baukunst der Mauren herauf. Auch die in der Nähe liegende Stierkampfarena verdankt die Stadt ihm. Auf drei schlanken, hochaufragenden Pfeilern aus Quadersteinen, die gleich vor Ort in der Schlucht gebrochen wurden, schwingt sie sich kühn über die gewaltige Schlucht, deren glatte Felswände senkrecht hinabstürzen, gekrönt von den weißen Häusern von El Ciudad. In ihrer Majestät wirkt die architektonische Szenerie auf den Betrachter einschüchternd, den in ihrem Schatten demütiges Staunen ergreift.

Trotz des Gedränges ist es unvergleichlich auf dieser Brücke zu stehen, über ihre Brüstung hinab in die die Tiefe zu schauen, sich befreit zu fühlen von jeder Erdenschwere. Die enge Schlucht rahmt den Blick zwischen schroffen Wänden, begrenzt ihn wie den Fluss tief unten, und reißt ihn hinaus in die Weite der hügeligen Landschaft über der Ronda thront wie der Adler in seinem Horst. Dann hinabsteigen in die enge Schlucht, an die Wurzeln von El Puente Nuevo, wo die Bögen der Brücke den Blick himmelwärts ziehen. El Puente Nuevo ist ein beeindruckendes Bauwerk. Ihresgleichen wird anderswo nicht leicht zu finden sein. De Aldehuelas Brücke verbindet nicht nur das Alte und Neue, sie ist auch eine Grenze, die landschaftliche Enge und Weite am gleichen Ort erlebbar macht.

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Das kleine, fast versteckt liegende Museum in Ronda gedenkt Kriminellen, die eine kleinbürgerliche Moral nicht unbedingt als erinnerungswürdig betrachtet. Sie ähneln Rilkes von einem inneren Drang bewegt Handelnde, Männer, deren Gefühl für an ihnen und den Ihren begangene Ungerechtigkeit sie motivierte, sich gegen die Herrschenden zu stellen, die ihre Verpflichtung für das Gemeinwohl zu ihren eigenen Gunsten missachteten. Das Museum ist eine Hommage an das Leben von Andalusiens berühmten Banditen, und wie sie präsentiert es nicht unmittelbar im Licht der Öffentlichkeit. Schon die Namen sind Programm: El Tempranillo, der Frühreife, weil er zu Beginn seiner Karriere zu den berüchtigten Kindern von Écija (Los Siete Niños de Écija) gehörte, zu denen auch El Tragabuches, der den Spitznamen seines Vaters übernahm, der einen neugeborenen Esel (tragar, schlucken, sowie buche, Esel) gegessen haben soll, eine Zeitlang gehörte; Pasos Largo, die langen Schritte und El Pernales (Quarzit, Feuerstein), dessen Gefühle hart wie Stein waren, oder El Bandido Generoso und andere. Männer, deren besondere Aura sich in einem charakterisierenden Eponym niederschlug, unter dem sie bekannt und gefürchtet waren wie heutzutage manche Popstars.
Bandoleros operierten in 18. und 19. Jahrhundert in den bergigen Regionen Andalusiens, zwischen Granada und Sevilla, aber nicht nur dort, sondern auch in anderen Teilen Spaniens trieben sie ihr Unwesen. Sie fanden Zuflucht in den schwer zugänglichen Bergen. Geächtete, aus dem Rechtssystem einer Gesellschaft Ausgestoßene. Wer gesetzlos war, war sozial und zivil tot. Niemand durfte ihm Nahrung, Unterkunft oder andere Unterstützungen anbieten, wollte er nicht der Beihilfe schuldig sein und hart bestraft werden. Ein Gesetzloser konnte ungestraft getötet werden. Dass war kein Mord, sondern ein missverstandener Verdienst an der Gemeinschaft, eine Ideologie, mit der das Feudalsystem des spanischen Adels seine Gegener aus dem Weg räumte. Ein archaischer Brauch, ohne Gerechtigkeit, Moral und Humanität. Nicht erst heute, auch schon vor Jahrhunderten wurden Verbrecher gemacht.
Bandoleros! Andalusische Banditen! El Bandolero Generoso! Der großzügige Bandit war einer von ihnen, Diego Francisco Bernardo Mateos, wie er mit bürgerlichem Namen hieß. Ein Vogelfreier. Ein seltsamer Vergleich, das entbehrungsreiche Leben eines gesuchten Banditen für frei zu halten; eher schon bindungsfrei. Der großzügige Bandit wurde am 20. August 1757 in Utrera geboren, in der Provinz Sevilla, und einen Tag später in der damals schon alten Iglesia de Santiago getauft. Seine Biografie ist wenig bekannt und rätselhaft, sodass man sie mit legendarischen Zügen ausschmückte.

Ein Wort mit vielen Bedeutungen, das Adjektiv corriente, das Epitheton, das Diego im Namen führt, und dessen semantisches Feld von gängig im Sinne von verbreitet bis gewöhnlich reicht. Diego Corrientes stammte aus der andalusischen Arbeiterklasse, der er sein Leben lang verbunden blieb. Es war deren unterprivilegierte Situation, die ihn schließlich zum Anführer einer Gruppe von Outlaws und zum Dieb machte. Die volkstümliche Überlieferung schildert ihn als einen Banditen mit außergewöhnlichen Mut, Schlauheit, von großen Geist, Lebendigkeit und bewundernswerter Stärke, Eigenschaften, die er zum Wohl der Armen einsetzte, und die ihn zum altruistischen Helden stilisieren. Berühmt ist seine erbitterte Fehde mit Don Francisco de Bruna, dem Regenten von Sevilla, der ihn bis zu seinem Tod erbittert verfolgte. Er erließ ein Edikt, das jede Person ermächtigte, Diego Corriente gegen eine Belohnung zu töten oder zu verhaften. Mit dem großzügigen Banditen sind auch eulenspiegelhafte Motive verbunden. So trat er verkleidet in Sevilla auf, präsentierte sich in einer Ausstellung und übergab sich selbst dem Regenten de Bruna. Einmal sollen sich die beiden auf einer Brücke in der Nähe von Utrera getroffen haben, wo der Bandit den Adeligen vorgeführt hat und ihm die Schuhriemen zusammenband. Legendenbildung und Heroisierung haben nur wenig mir der historischen Realität zu tun, in der der Bandit wie ein Staatsfeind gnadenlos verfolgt wurde. 1780 bot Karl III. von Spanien jedem, der Diego Corriente tot oder lebendig gefangen nimmt, hundert Goldstücke Belohnung. Nach einem Hinweis wurde er in Cobillán (Badajoz) gefangen genommen und festgesetzt, konnte aber nach Portugal fliehen. Auch in Olivenza, in Portugal, wo er sich in einem Bauernhaus versteckt hielt, wurde er angezeigt. De Bruna musste hundert Männer senden, denen es schließlich gelang, ihn gefangen zu nehmen und nach Sevilla zu überführen, wo er vor Gericht gestellt wurde. Von juristischen Unregelmäßigkeiten im Auslieferungsprozess von Portugal nach Spanien ist die Rede. Am 30. Mai 1781 wurde er in Sevilla gehängt und anschließend gevierteilt. Seine Körperteile wurden in den Straßen ausgestellt, sein Kopf in einem Käfig aufbewahrt, bis er schließlich in der Kirche San Roque beigesetzt wurde. Das finstere Mittelalter reicht bis in der Neuzeit. Diego Corrientes Schädel, in den ein Metallhaken eingesetzt war, wurde im 20. Jahrhundert bei Restaurierungsarbeiten der Kirche gefunden. Ein Leben als Modell, mit allen Klischees, historischen Splittern und Erfindungen, die es braucht, einen Helden zu kreieren, auch wenn seine Vita im Gegensatz zur herrschenden Moral steht. Die Furcht, die der andalusische Feudaladel vor Männern wie ihm hatte, denen der Sturz eines ungerechten System zugetraut wurde, äußert sich in diesen Überlieferungen. In der Geschichte der andalusischen Bandoleros ist El Bandido Generoso der idealisierte Archetypus eines Robin Hood, der den Reichen nahm, um den Armen zu geben. In der Legende, die sein kurzes Leben fiktionalisiert, haben Romanzen und Anekdoten eine größere Bedeutung als die historische Realität. Was ihn über den Tod und die Zeit hinaus sympathisch macht, und ihn von anderen andalusischen Banditen unterscheidet, ist eine weitere Charaktereigenschaft: er ist ein gewaltloser Bandolero, der nie Blut vergossen haben soll, sondern seine Opfer freundlich und charmant erleichterte. Anders als seine Nachfolger, auch seine literarischen. Die berühmtesten sind Robin Hood und Zorro, Adelige, die in die Rolle eines Banditen schlüpften, um himmelschreiende Ungerechtigkeiten ihrer Zeit zu rächen, verewigt in Hollywoods Filmen, beginnend mit Douglas Fairbanks, zuletzt mit Russell Crowe. Diego Corriente ist ein authentischer Bandit, ein Mann aus Fleisch und Blut, einer der wirklich gelebt hat, eine historische Persönlichkeit aus der Unterschicht der spanischen Landarbeiter, ein working class hero, der anders als seine Nachahmer Historizität beanpruchen kann. Seine Taten leben in der Kunst weiter, in wissenschaftlichen und belletristischen Werken, in Büchern und Groschenheften. Er wurde in vier Filmen porträtiert, darunter zwei Stummfilmen. Die letzte Regiearbeit, ein spanischer, historischer Abenteuerfilm aus dem Jahre 1959, von Antonie Isai-Isasmendi, widmet sich aufs Neue dem Leben des Straßenarbeiters Diego Corriente Mateos.

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Ein Klischee hat lange Zeit die Vorstellung von Andalusien beherrscht: todesmutige Toreros, Machismo, stolze Männer mit leicht reizbaren Gefühlen, feurige, glutäugige Zigeuner mit Gitarren, Bilder von Sängern, Flamenco und Banditen. Verwegene Gesichter, dunkle Augen und schwarzes Haar, Abenteurer mit wildem Temperament und locker sitzenden Messern. Das abgelegene kleine Museum in Ronda, zwei Etagen im Hochparterre, präsentiert ihre Hinterlassenschaften. Jose Ulloa Navarro, alias El Tragabuchas, entspricht noch am ehesten diesem Bild. Er ist einer der prominentesten und legendärsten Bandoleros Andalusiens; als Sinti am 21. September 1781 in Arcos de la Frontera geboren.

Sein Patenonkel, ein Verwandter der Romero-Stierkampffamilie aus Ronda, bildete ihn von klein an als Banderillero aus, eine Ausbildung, die José und Gaspar Romero später fortführten. Er war nicht nur wie El Tempranillo Mitglied der Sieben Kinder von Écija, im 19. Jahrhundert eine der bekanntesten Banditenbanden in Andalusiens, sondern teilte auch dessen tragisches Schicksal. Als er eines Tages nach einem ihm missglückten Stierkampf aus Málaga heimkehrte, erfuhr er von der Untreue seiner Frau. Im Zorn tötete er ihren Liebhaber, Pepe El Listillo (Klugscheißer), ein Akolyth aus der Pfarrei Santa María la Mayor in Ronda. Seine Frau warf aus dem Fenster, sodass sie an ihren Verletzungen starb. Nach dem im Affekt begangenen Doppelmord schloss er sich den Kindern unter ihrem Hauptmann, Juan Palomo, an. Er blieb bis zum Schluss in der Bande, deren prominentestes und legendärstes Mitglied er wurde. Als sie aufgelöst wurde, begnadigte man die meisten Mitglieder, aber nicht El Tragabuchas, von dem jede Spur fehlte.

Banditen sind Räuber, die im Unterschied zu Dieben, fremdes Eigentum durch Gewaltanwendung in ihren Besitz bringen. Straßenraub war ihre besondere Profession. Man nannte sie Briganten, Wegelagerer, Deserteure, Vogelfreie und Gesetzlose, mit einem Wort Kriminelle, Outlaws, Geächtete, die sich aus verschiedenen, meist sozialen und wirtschaftlichen Gründen plötzlich außerhalb des Gesetzes wiederfanden, Verzweifelte, die keinen anderen Ausweg mehr sahen, um zu überleben, Ausgestoßene, die vor autoritären und ungerechten sozialen Bedingungen in die Wälder flüchteten. Auf See waren sie Piraten, Kaperfahrer und Freibeuter, wie Störtebeckers Likedeeler, die als Vitalienbrüder bezeichneten Gleichteiler, oder wie Sir Francis Drake, ein von Elizabeth I. mit Kaperbriefen legalisierter Pirat, der das spanische Embargo umging und zur Aufbesserung der englischen Staatsfinanzen beitrug, bis man ihn aus politischem Kalkül ächtete.
In Europa waren Räuber im 17. und 18. Jahrhundert in Banden organisiert, lose verbundene, verschworene Gemeinschaften, die sich um einen Anführer scharten, den sogenannten Räuberhauptmann, einer von ihnen, der sich durch besondere Kompetenzen hervorhob oder den auszuraubenden Ort oder die Person am besten kannte und auskundschaftet hatte. Egalitäre Bruderschaften mit einem Primus inter pares auf Zeit, einem Big Man mit besonderen Beziehungen und wirtschaftlichen Mitteln, nützlichen Kompetenzen und Charisma. Bekannte deutsche Räuber waren Johannes Bückler, besser bekannt als Schinderhannes, der im 18. Jahrhundert im Hunsrück für Diebstähle, Erpressungen und Raubüberfälle verantwortlich war, oder die Kimmel-Bande, die Bernhard Kimmel nach dem Vorbild des Schinderhannes organisierte, die noch zwischen 1957 und 1961 im Pfälzer Wald Raubzüge und Einbrüche organisierte. Die Dalton-Brüder, John Dillinger oder Bonnie Parker und Clyde Barrow, die legendären Postkutschenüberfälle zahlreicher Western sowie der legendäre Postraub von 1963 in England, sind beliebte Themen zahlreicher Hollywood-Filme. Nicht zuletzt der Franzose Louis Dominique Bourguignon alias Cartouche, der im 18. Jahrhundert mit seiner Bande Paris in Schrecken versetzt hat. In der Pariser Bevölkerung und beim Adel soll er populär gewesen sein, weil seine Streiche oft von gewissem Witz zeugten. Ein Eulenspiegel mit Messern und Pistolen. Wer kennt nicht Philippe de Broccas Film Cartouche der Bandit von 1962, dessen Leben der eben erst verstorbene Jean-Paul Belmondo wie einen nicht endenden Schelmenstreich auf di Leinwand brachte. Für ihren Gesetzesbruch bestraft, oft hingerichtet, erzählte man von ihnen in Legenden, von ihrem Mut zum Widerstand und ihrem Freiheitswillen, angesichts von Armut und Machtmissbrauch. Und von ihrem Humor, der ein Kästnerischer ist. In dieser Gestalt wurden sie zu Protagonisten literarischer Genres.
Sie sind beliebt, die Räuber, Diebe, Gauner, Hochstapler, Erpresser und Banditen, denn sie repräsentieren eine Freiheit unter Bedingungen oft willkürlicher Eigentumsrechte, die an monetäre und militärische Macht geknüpft sind. In Regionen, in denen die Bevölkerung verarmte und an Elend und Ungerechtigkeit litt, waren Schmuggel, Raub und Plünderung nur eine Frage der Zeit, um die menschenunwürdigen Lebensbedingungen, die eine feudale oder frühkapitalistische Oberschicht verursachte, zu lindern. Im 18. Jahrhundert kamen Räuberromane in der deutschen und englischen Literatur in Mode. Im Zentrum des Genres steht der edle Räuber, der einerseits außerhalb der Gesetze steht, Verbrechen begeht und oft als Verbrecher endet, andererseits als Beschützer und Befreier der Armen und Rechtlosen oder als Empörer gegen die Willkür der Machthaber auftritt. Räuberromane sind literarische Projektionsflächen in der Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Herrschaftsstrukturen. Ausgangspunkt des Räuberromans war Friedrich Schillers Drama Die Räuber von 1781, dass auf den damals bekannten Räuber Nikol List zurückgeht. In seinem Drama thematisiert Schiller die Läuterung der Söhne von Maximilian, Graf von Moor, dessen Lieblingssohn Karl sich in seiner Verzweiflung zum Anführer einer von seinen Freunden gegründeten Räuberbande wählen lässt, die er aus idealistischer Sicht für ehrenvoll hält, da sie sich für die Schwächeren einsetzt wie Robin Hood, ein anderer zur literarischen Figur gewordener Räuber, zentraler Held mehrerer englischer Balladenzyklen. Zu Beginn ein gefährlicher Wegelagerer einfacher Herkunft, der habgierige Geistliche und Adlige ausraubt, entwickelte er sich von einem angelsächsischen Adeligen, zu einem gegen die Normannen aufbegehrenden Patrioten, hin zu einem Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit, der den Reichen nimmt und den Armen gibt. Auf der Grundlage trivialer Räuberromane, und aus der Perspektive Reisender im dunklen Wald, baut Wilhelm Hauff Das Wirtshaus im Spessart auf, in dem die Räuber als gefährliche, brave Menschen bedrohende Gefahr geschildert werden.
Die Bandoleros gab es in Spanien nicht nur in Andalusien, sondern endemisch auch in Katalonien, Galizien und den Bergen von Toledo. Bewaffnete Männer, deren Gewerbe Raubüberfälle, Plünderungen, Schmuggel und Entführungen waren. In den einsamen Bergregionen und Wäldern Andalusiens lauerten Räuberbanden den Reisenden auf, raubten sie aus und zogen sich auf Maultierpfaden in die unwegsame, schwer zugängliche Landschaft zurück. Hinter ihrem malerischen, romantisch klingenden Namen verbirgt sich der Räuber aus sozialer Not, wie ihn auch andere europäische Länder, in deren Literatur er eingegangen ist, kennenlernten und erbarmungslos verfolgten. In seiner kritischen Studie Bandidos von 2001 beschreibt Eric Hobsbawn die gesellschaftlichen Ursachen des europäischen Banditentums: In den Bergen und Wäldern zwingen Männergruppen, die außerhalb der Reichweite des Gesetzes und der Autorität liegen (traditionell sind Frauen selten), gewalttätig und bewaffnet, ihren Opfern ihren Willen durch Erpressung, Raub und andere Verfahren auf. Auf diese Weise fordert die Banditentätigkeit die wirtschaftliche, soziale und politische Ordnung heraus, indem sie diejenigen herausfordert, die Macht, das Gesetz und die Kontrolle über Ressourcen haben oder beanspruchen. Dies ist die historische Bedeutung der Banditentum in Gesellschaften mit Klassenunterschieden und Staaten.

Dem Museo del Bandolero geht jetzt, wenn ich diese Zeilen schreibe, wie den meisten Museen weltweit, in Zeiten, in denen SARS CoV 2 die Welt in Atem hält: Es ist seit Monaten geschlossen. Dies macht mir wieder bewusst: Es ist richtig, einer Eingebung zu folgen, auch wenn sie unerwartet kommt oder unsinnig zu sein scheint. Die Website nennt den Besuch dieses kleinen Museums in der Altstadt einen der wichtigsten Abstecher unserer Stadt. Das Museum besteht aus fünf Ausstellungsräumen, in denen Exponate und Informationen zu fünf Themen zu sehen sind: die Epoche der reisenden Romantiker, Biografien der bedeutendsten Banditen, der Polizei, die die Banditen verfolgte, die Waffen, die sie benutzten sowie schriftliche, historische Zeugnisse in Form von Literatur, wissenschaftlichen Studien und populären Filmen. Das Museo del Bandolero, liebevoll eingerichtet, vollgestopft und exotisch präsentiert; ein Ort des historischen und kulturellen Gedächtnisses einer berüchtigten und einst gefürchteten Subkultur. In Spanien gibt kein zweites solches Museum, verrät mir die Señora am Ticketschalter. Und woanders erst recht nicht. Es ist ein Ort, um zu Stauen, um Zeit zu verschwenden und sich genussvoll umzuschauen, nicht so sehr ein Ort des intellektuellen Bemerkens. Kein Museum der modernen didaktischen und museumspädagogischen Methoden. Selbstbewusst stellt sich das Museum vor: Wenn Sie nach Sehenswürdigkeiten in Ronda suchen, zögern Sie nicht, unser Museum zu besuchen. Sie werden es nicht bereuen, denn es ist eine einzigartige Erfahrung in ganz Spanien. Ein Ort für Liebhaber, für Zeitverschwender und Sammler von Ungewöhnlichem, für solche, die es verstehen, sich dem unerwartet am Weg Liegenden hinzugeben. Eintausenddreihundertneunzig Exponate, sagt mir die Dame am Eingang weiter, die ein viel zu niedriges Eintrittsgeld fordert, enthält die Sammlung. Unter ihnen befinden sich Bilder von Banditen, zeitgenössische Drucke, Fotografien, Ölgemälde, Aquarelle, Gravuren, Lithografien, Comics und Aufkleber sowie Bücher über sie. Ihre Waffen liegen in Vitrinen und ihre Kleidung, ihre materielle Kultur und Lebensumstände sind in Dioramen nachgestellt, damit sich der Besucher keine falschen Vorstellungen macht. Historische Dokumenten werden neben Abenteuerfilmen a la bandolero aufbewahrt. Es gibt sogar Briefmarken und Aufkleber. Was nach einem unübersichtlichen Sammelsurium klingt, verwandelt sich für den in den Räumen flanierenden Betrachter zu einer nach Themen geordneten Schau.
Die Kleinstadt Ronda bewahrt ein museales Kleinod, dessen Zukunft alles andere als gesichert erscheint, da Google aktuell meldet: Dauerhaft geschlossen. Diese Hommage und die Biographien von fünf der Bandoleros - El Tragabuches, El Tempranillo, Bandolero Generoso, Pasos Largos und El Pernales - geben einen Eindruck von ihrem Leben zwischen erlittener Ungerechtigkeit und kriminellem Verhalten, dessen emotionale Tiefe und Tragik Rezipienten bis heute beeindruckt. Eine Hommage an das Leben von José Ulloa Navarro, El Tragabuchas genannt, José María Hinojosa, der El Tempranillo war, Diego Corriente Mateos, der Bandolero Generoso, Juan José Mingolla Gallardo, Pasos Largos, der letzte der andalusischen Bandoleros oder Francisco Ríos González, El Pernales, um nur wenige zu nennen, die ihre Zeit über ihren Tod hinaus prägten.

Quellen

  • Die Abbildungen von Diego Corriente Mateos und Jose Ulloa Navarro finden sich auf der Webside des Museo del Bandolero in Ronda. Vielen Dank für die Nutzung.
  • Museo del Bandolero Website.
  • Cees Nooteboom, Der Umweg nach Santiago, Frankfurt a.M., 1991.
  • Die Abbildung Des Räubers Frau findet sich auf der Website von iStock. Vielen Dank für die Nutzung.

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