Freitag, 24. April 2020

El Palomar de la Breña


Wenn Sie eine Stelle finden, wo Wälder und Dunst die Gipfel umhüllen
und so die Illusion von Tiefe hervorrufen, die jeder Reise Bedeutung verleiht
dann lüften Sie den Hut und gedenken Sie derer, die vor Ihnen
da waren und Ihnen den Weg gebahnt haben.

Wade Davies

Viele Menschen vernachlässigen die Erfahrungen, die sich nicht mit ihrer Selbstwahrnehmung decken. Wie anders wäre unsere Wahrnehmung der Realität, wenn wir die alltäglichen Erfahrungen verwerfen, die nicht mit unseren Träumen übereinstimmen?
Vejer de la Frontera. Ich schaue mich um, und frage mich: Welche Grenze! Wieder ein geheimnisvoll klingender Name, noch einer, der nichts verrät, bis ich erfahre, dass die Grenze zum früheren maurischen Granada gemeint ist. Nach einer Woche Cádiz wirkt Vejer auf mich wie eine festlich herausgeputzte Braut, in Erwartung ihres Liebhabers. Cádiz ist das pralle Leben, Vejer eine museale Präsentation: sauber, aufgeräumt, übersichtlich. Ein langweiliges Pueblo Blanco. Weiße, gekalkte Häuser, wie gehabt, das Gewirr enger, verwickelter Gassen, in denen ich schnell die Orientierung verliere. Über mir ein blendend blauer Himmel, um mich herum tiefe Schatten. Blau und Weiß. Doch warum zeigt die andalusische Flagge grün und weiß? Schon jetzt im Frühling ist grün keine dominierende Farbe mehr. Die Gebäude stehen dicht aneinandergedrängt, die wenigen Fenster vergittert, die Jalousien herabgelassen. Jedes Haus besitzt ein schattiges Vestibül, in dem Topfpflanzen im Halbdunkel gedeihen. Der blumengeschmückte Patio, um den herum gewohnt wird, nimmt das Zentrum des Hauses ein. Auch das ist römisch, besonders arabisch, dass das Äußere zugunsten des Inneren maskiert. Die Architektur garantiert, dass nicht das kleinste bisschen Kühle aus dem Inneren entweicht. Das schönste Dorf Spaniens soll Vejer de la Frontera sein, mehrmals prämiert, ein Ort, dessen Zentrum der Tourismus prägt. Ich habe in Andalusien viele schöne Ortschaften gesehen. Warum bildet gerade Vejer eine Ausnahme? Die Hotels sind luxuriös, die Restaurants nobel. Es riecht nach Sternen, nach Michelin und überhöhten Preisen. Wie gut, dass es die Peripherie gibt, die breiten Straßen, die hohen Häuser mit mehreren Etagen, wenige höher und unverschämt modern, die Bars und Caféterias, die Geschäfte, in denen Gebrauchsgegenstände und keine Souvernirs angeboten werden. Die Plaza de España bildet das Herz des Tourismus, mit ihrem kitschigen Brunnen, High Light für Kleinbürger. Das Design des Platzes kann jede Puppenwelt zieren, doch nur solange, bis ihre Besitzerin in die Pubertät wechselt, und alle Träume von Prinzen und Pferden desillusioniert werden. Was prunkvoll gedacht ist, protzt steril und peinlich. Preiswürdig? Nur wenn die Besucher, die durch das historische Viertel bummeln, die Juroren sind. Doch über sie will ich schweigen. Es ist mir immer wieder ein Ärgernis, dass der internationale Tourismus die schönsten, romantischen und interessantesten Orte besetzt hat, und jedem von ihnen den gleichen Stempel der Langeweile und Belanglosigkeit aufdrückt. Doch mir bleibt das Land, in das zu wenige vordringen, um dessen Charakter zu verändern. Vejer de la Frontera, ein Ort, den man nicht kennen muss, doch an dem ich schwer vorbeikomme. Denn da ist die herrliche Küstenlandschaft, eine Augenweide nach dem harten, schroffen Land am Cabo de Gata. Vejer, eine Kleinstadt südlich von Cádiz, die sich wie Ronda auf einem Hügel aus einer intensiv landwirtschaftlich genutzten Ebene erhebt, wo antike Windmühlen mit modernen Windturbinen konkurrieren.

Ich werde morgens wach, und höre wie der Wind geräuschvoll durch die Gasse weht. Das Brausen des Himmelsherrschers, des kleinen Bruders der Sonne im Ohr, fällt es mir schwer aufzustehen. Es ist hell, trotzdem kann ich den Himmel nicht sehen. Als ich nach draußen komme, hängt er wolkenlos blau über mir. Die Sonne scheint, doch es ist noch kühl. Ich überlege einen Moment, ob ich zurückgehe, um mir eine Jacke zu holen. Eine Tasse Milchkaffee in der kleinen Bar an der Ecke, etwas Brot, Olivenöl und Tomate. Zwei Tische, ein kurzer Tresen. Von der Decke hängen geräucherte Schinken herab. Der Oberschenkel eines Schweins ist eine Zwinge gespannt, damit sie besser mit dem Messer zerlegt werden kann. Vom berühmten Jamón Iberico werden immer nur hauchdünne Scheiben abgeschnitten, was Geschicklichkeit mit dem Messer erfordert. In schmalen Regalen hinter der Theke stehen Spirituosen in bunten Flaschen vor einem beleuchteten Spiegel. Aktuelle Tageszeitungen umgeben den vereisten Zapfhahn für das regionale Bier. Natürlich fehlt nirgendwo eine leistungsfähige Kaffeemaschine, denn Spanier trinken immer Kaffee, wenn sie in eine Bar gehen. Auch das ist arabisch. Ein Kinderlied bezeichnet den Kaffee sogar als Türkentrank. Schwach und krank soll er machen, aber das waren wohl andere Zeiten. Morgens früh trifft man die Männer der Nachbarschaft in der Bar nebenan. Ein schneller Kaffee, ein Small Talk, dann beginnt der Arbeitstag. In irgendeiner Ecke hängt immer ein Ständer mit einer beeindruckenden Kollektion von Kartoffelchips, die auf Käufer warten. Die kommen selten, denn es gibt immer eine Kleinigkeit zu essen zum Bier: Nüsse, Oliven, eine Tapa. Es ist eng im Raum und laut. Aber nicht verraucht. Die spanische Gastronomie ist konsequent rauchfrei. Der Wirt schiebt sich seine rote Basecap in den Nacken. Über dem Schirm prangt ein Aufdruck: Estrella Galicia, das galicische Sternenbier, dass es in Andalusien nur in Flaschen gibt. Er hat sich eine dunkelgrüne, fleckige Schürze um seinen Bauch gebunden, und palavert mit zwei Gästen, Männern weit über Sechzig. Einige Worte nur, mehr verstehe ich nicht. Es geht immer noch um Catalunya und den Carlos im Exil, der kein König ist. Diese kleinen, vollgestopften Bars ziehen mich magisch an. Wirklich erklären kann ich das nicht. Vielleicht repräsentieren sie für mich die typische spanische Lebensart. Mein ureigenstes Spanienklischee. Ihre familiäre Atmosphäre, ihre Bescheidenheit, faszinieren mich. Immer gibt es Tapas, und immer sind es die Bars, die den besten Milchkaffee zubereiten. Manchmal riecht es nach geräuchertem Schinken. Dann schaue ich automatisch zur Decke, wo ich eine Patina erwarte.

Als ich am Ende der Avenida de Andalucía die letzten Häuser von Vejer de la Frontera hinter mir lasse, weht mir der Wind so heftig entgegen, dass ich erwäge, umzukehren. Kein Schutz, rundherum freies Feld, über dem der Wind an Geschwindigkeit zunimmt. Ich muss mich gegen ihn lehnen, kämpfe immer wieder mit dem Gleichgewicht, so sehr rüttelt er an mir. Er weht mir die Mütze vom Kopf, und ich muss die meisten Fotos mehrmals machen, weil ich das Smartphone im Wind nicht ruhig halten kann. Nur wenige gelingen mir. Wandern im Windkanal. Inzwischen bedauere ich, meine Jacke nicht geholt zu haben. Doch von innen wärmt mich das Gehen, ich schwitze bald, wobei der Wind meine Haut noch mehr abkühlt. Ich friere nicht, sage ich mir. Nur Wind Chill!

Andalusien hat sich verändert. Im Westen, an der Costa de la Luz, fühle ich mich weit entfernt von den trockenen, schroffen Berglandschaften der Costa del Sol und des Cabo de Gata. Das Land ist grün, nicht nur ein Hauch auf Stein, sondern wirklich grün. Frühlingsgrün. Rollende Hügel, die Berge nur vage Silhouetten in der Ferne. Bäume, Sträucher und Hecken säumen blumenbegrenzte Wege. Die Feldraine blühen gelb, blau und violett. Dazwischen der letzte rote Mohn. Die weite Ebene kleidet ein Muster vielfarbiger Felder, Parzellen in ocker, grün und gelb. Oliven, Sonnenblumen, Weizen. Hin und wieder eine alte Windmühle, als Wohnhaus restauriert oder verfallen. Manche haben sogar ihre Flügel noch. Ich denke an Don Quixote und seine Rosinante. Der Frühling liegt in Gänze in der Luft. Er hat seinen Zenit erreicht. Zahlreich verkünden es die Vögel aus den Hecken, während ein Wanderfalke hoch am Himmel schwebt. Als der Wind kurz nachlässt, steht er plötzlich in der Luft, flattert hektisch mit den Flügeln, kurz bevor er herabstößt. Und weiter weht der ruhelose Wind.

Der Weg schlängelt sich eng unter Windturbinen hindurch, deren Rotoren unheimliche Schatten werfen. Sie fühlen sich wie blasse Messer an, und jedes Mal, wenn ihr Schatten meine Schritte kreuzt, ziehe ich unwillkürlich die Schultern ein. Ein Gefühl, mich bücken zu müssen, um nicht geköpft zu werden. Der Wind gefällt den Rotoren, die sich so schnell drehen, dass ihr Surren ihn übertönt. Die Vögel sind nicht mehr zu hören. Es ist besser, wenn sie fernbleiben, denn Rotoren verstehen keinen Spaß. Ich bin so sehr in die Landschaft eingetaucht, dass ich eine unauffällige Abzweigung übersehe, die sich ins Gebüsch verdrückt. Beschwingt und enthusiastisch gehe ich ein paar Kilometer auf der leicht abschüssigen Piste in die falsche Richtung. Der Weg ist gut und leicht zu gehen, und zieht mich wie von selbst mir sich fort. Erst ein braunes Metallschild mit einer Spitze, die in meine Richtung weist, bringt mich in die Wirklichkeit zurück. Barbate, neun Kilometer. Was soll ich in Barbate, also kehre ich um. Wandern ist nicht nur schwärmerisches Versinken, sondern auch aufmerksames Schauen, Bedenken und Orientieren; besonders auf Weg und Richtung. Manches gelingt intuitiv, aber nicht alles. Es ist wie im Straßenverkehr: Es gibt unverletzliche Regeln zu beachten.

Ich will nach El Palomar de la Breña wandern. Und von dort zurück nach Vejer de la Frontera. Die erste Etappe meiner Rundwanderung soll ein Taubenschlag sein, nicht irgendeiner, sondern einer der drei größten Taubenschläge Europas. Er ist die historische Attraktion im Parque Natural de la Breña y Marismas del Barbate im Innern des Landguts La Porquera. Eine kulturelle Bresche in der umgebenden Natur, die andere Schönheiten bereithält. Zweitausendfünfhundert Hektar Taubennester. Jede Nische, in der die Nester liegen, ist groß genug für ein Taubenpaar und ihr Gelege. Es nisten noch immer Tauben in dem an eine Katakombe erinnernden Schlag. Mietfrei wohnende Schlagbesetzer. Niemand weiß, verrät mir der zum Plaudern aufgelegte Wirt, warum die Vögel immer wieder kommen. Un misterio! Und wieder ein geheimnisvoll klingender Name, ein abgelegener Ort, ein Faszinosum. Als ich zu ersten Mal von El Palomar hörte, wusste ich gleich, dass ich ihn sehen muss.

Den Taubenschlag zu erreichen, den Weg dorthin zu finden, fällt mir schwer. Jenseits der Windturbinen ist Schluss. Der Weg endet an einem Ensemble von Gebäuden, die abweisend hinter hohen Mauern und Toren liegen. Eine letzte Kreuzung, ein verschlossenes Weidetor und eine Weide, auf der ein schwarzer Stier neugierig zu mir herüberschaut. Durchgang verboten! Schwarz auf weiß steht der Horror jeden Wanderers auf einer rostenden Tafel: Der Weg ist hier zu Ende. Rufen hilft nicht, aus dem Haus kommt niemand zur Hilfe. Kein Hund bellt, kein Mensch lässt sich sehen, kein Laut ist zu hören. Über den nur teilweise fertiggestellten Häusern lastet eine unwirkliche Stille, die nur gelegentlich der Wind unterbricht, der gierig an einem losen Fensterladen rüttelt. Schwer vorstellbar, dass niemand zu Hause ist. Der Stier auf der Weide, zwei zugelassene Autos auf dem Hof, ein Sack Müll vor der Tür. Und trotzdem, niemand antwortet auf mein Rufen. Ein anderer Weg führt auf eine Blumenwiese und endet vor einer Hecke. Dahinter dichtes Unterholz. Ein steiler, unpassierbar Hang, der abwärts ins Tal in die falsche Richtung führt. Gegenüber sehe ich El Palomar de la Breña, zum Greifen nah, aber unerreichbar. Weiter unten ein anderes Weidetor, das sich öffnen lässt. Ganz hinten ein schwarzer Stier, ganz allein auf der Weide. Ich bin ein Stadtmensch und den Umgang mit diesen Tieren nicht gewöhnt. Ich traue ihnen nicht mehr, seit mich eine Herde Rinder zurück ins Wasser der Rur jagte, als ich gerade aus dem Kajak steigen wollte. Die dünne Spur des Pfads verliert sich ohnehin zwischen dem Gras und den Blumen der Weide. Ich suche in alle Richtungen. Erfolglos. Der Weg bleibt verschlossen.

Wandern heißt vorwärts gehen. Gibt es Wanderer, die gern zurückgehen? Nur der Blick zurück ist immer verlockend, denn er zeigt den gewanderten Weg, die eben erst durchstreifte Landschaft, aus einer neuen Perspektive; so als hätte ich sie nie zuvor gesehen. Plötzlich erscheint mir das gerade erst vertraut Gemachte fremd, in einem neuen Licht. Ich staune immer wieder, was ich vorwärtsblickend alles übersehe. Es ist nicht immer schlecht, sich zu verlaufen, und zurückgehen zu müssen. Das verschlossene Weidetor verlangt eine Entscheidung: zurück auf den Weg unter die noch immer surrenden Rotoren, der dadurch auch nicht interessanter wird. Aufgeben und zurück nach Vejer? Dann gehe ich eben nach Barbate. Die Richtung kenne ich schon. Links von mir schimmern die weißen Gebäude von La Poquera durch die Büsche. Der Weg nach Barbate ist ein Umweg, doch irgendwie führt er in die richtige Richtung.

Jeden Schritt einer Wanderung zu planen, ist selten möglich. Auch mit einem Wanderführer nicht. Die Texte sind veraltet, die Bedingungen entlang des Wegs ändern sich, die Perspektive des Autors erkenne ich in der Realität der Landschaft nicht. Nach Barbate führt eine breite sandige Piste, auf der ich Bikern begegne. Der ein oder andere PKW, der vorüberkommt, hüllt mich in eine Staubwolke. Sand knirscht zwischen meinen Zähnen. Es ist Anfang Mai, in Sevilla 37 Grad und auch im Westen Andalusiens hat es länger nicht geregnet. Zu heiß für die Jahreszeit, sagt mein Nachbar. 2014 hat es begonnen, fährt er fort, die durchschnittliche Temperatur ist um zwei Grad gestiegen. Die beiden nassen Jahre, 2016 und 2018, waren eine Ausnahme. Es wird allmählich trockener. So trocken, dass es auch mir auffällt. Ich mag diese breiten, staubigen Pisten nicht, auch wenn sie sich gut gehen lassen. Letztlich sind sie langweilig, da ihnen das Individuelle fehlt, die Vielfältigkeit. Sie sind mehr für Fahrzeuge gedacht, für schnelles Vorankommen, weniger für die Langsamkeit des Fußgängers. Ich liebe Feld- und Wiesenwege, ihre Farbigkeit, ihre Beständigkeit sowie die weiten Ausblicke über das Land. Noch mehr aber das abwechslungsreiche Auf und Ab der Bergpfade, wo der Untergrund sich bei jedem Schritt verändert und die Perspektive ihre Kontinuität einbüßt. Am liebsten zwischen Berg und Meer. Doch es gibt keine Alternative: Barbate oder zurück nach Vejer de la Frontera. Der Wind ist auf dem von Hecken gezäumten Weg inzwischen erträglich geworden. Er kühlt meine Haut nicht mehr ab, und Hitze und Schweiß stören mich nicht mehr. Die Piste verführt mich zu einem zügigen Marschrhythmus mit Metalmelodien im Ohr. Auf den Weg brauche ich nicht mehr zu achten, denn es gibt nur den einen, und der ist breit genug. Ich kann ihn gar nicht übersehen. Immer wenn mich die Umgebung nicht fordert, bevor ich mich beginne zu langweilen, kommen die Gedanken zahlreicher, auch ungewollte und manchmal sogar unerwünschte. Erinnerungen, Bilder, unerwartete Gefühle. Der Weg löst sie aus, das pure Gehen, die Atmosphären, die in der Luft liegen, vielleicht unbewusst Wahrgenommenes, Gespürtes, von dem ich keine Quelle weiß. Es kann nur am Weg liegen, und am Gehen.

Cerro de la Porquera ist ein Dorf am Wegesrand, wo die Piste endet und das Naturschutzgebiet beginnt; ein grüner Wald auf gelbem Sandboden. Schon der Kontrast lässt mein Herz höherschlagen. Die nächste Piste, für Schatten ist sie zu breit, und noch sechs Kilometer bis Barbate ans Meer. Ich freue mich schon, die Wellen des Mittelmeers aus der Höhe zu sehen. Und der Taubenschlag liegt gleich um die Ecke; nur ein Kilometer abseits der Piste, abwärts, ein unbefestigter Weg neben einem Sonnenblumenfeld, das sich einen Hügel hinaufzieht, den eine Windmühle krönt. La Poquera! Ein Hotel wie eine Hacienda in einem mexikanischen Film. Ein Torbogen, ein quadratischer Innenhof, die Wohn- und Wirtschaftsgebäude an den anderen drei Seiten. Von einem Taubenschlag keine Spur. Ich muss fragen, denn der Taubenschlag befindet sich mitten im Hotel. Beziehungsweise: Das Landhotel ist um den Taubenschlag herum gebaut. Durch eine Bar, einen Gang entlang, durch eine schief in den Angel hängende, altersschwache Flügeltor aus patiniertem Holz, und ich stehe inmitten von Wänden, die von Nischen übersät sind. Als ich eintrete, flattern hoch über mir erschreckt ein paar Tauben auf, die letzten Untermieter einer vergangenen Welt. Die parallelen Gänge eines verfallenden, düsteren Gewölbes wachsen einige Meter um mich herum nach oben, wo mir ein schmaler Streifen Himmel garantiert, nicht in ein Labyrinth unter die Erde geraten zu sein. Unvermittelt stehe ich mitten in einer anderen Zeit, habe die Wärme, die Farben und die Weite des Himmels verloren. Um mich herum steiniges Grau und Braun, weißgefleckt vom Taubenkot. Die senkrecht um mich herum aufstrebenden Mauern, die nur schmale Gänge lassen, sind von unzähligen Reihen runder Öffnungen bedeckt. Eine neben der nächsten, nur der nötigste Zwischenraum, das Bild eines gigantischen Weinkellers ohne die Flaschen, die man in den Öffnungen erwartet. Im Zentrum der Anlage ein liegt ein quadratischer Innenhof, erreichbar durch Torbögen, die aus mehreren Richtungen aus dem Halbdunkel kommen. Auch in den Wänden des Hofs liegen die Nisthöhlen der Tauben dicht gedrängt. Doch das kuriose Hotel ist bis auf einige wenige geflügelte Gäste verlassen. Der Taubenschlag, palomar, erzählt mir der Barkeeper später, wurde im 18. Jahrhundert gebaut und enthält 7 700 Nisthöhlen in den dicken Wänden. Der zentrale Platz im Schlag diente als Badeplatz, wo die brütenden Tauben vor rauem Klima und Raubtieren geschützt waren. Er ist einer der größten weltweit, behauptet er stolz, was ich ihm aber nicht glaube, denn ich habe anderes gelesen. Einst produzierten die brütenden Tauben zehn bis fünfzehn Tonnen Exkremente, die reich an Nitrat- und Phosphatsäuren sind, Guano, schwarzes Gold, für die Hanf- und Tabakpflanzungen. Zu Pulver vermahlen wurde der Dünger über die Felder gestreut, bevor es anfing zu regnen. Den größten Teil des jährlichen Ertrags verwendete man allerdings zur Herstellung von Schießpulver. Das Guano-Pulver soll so wertvoll gewesen sein, dass sich Familien die Kontrolle darüber durch Heiraten und die Bindung an den Brautpreis sicherte. Die Aristokratie von Cádiz schätze Tauben als Delikatesse, und auf den Schiffen in die Neue Welt waren sie als leicht zu beförderndes, frisches Fleisch beliebt, was dem Betreiber der Anlage zusätzliche Einkünfte sicherte.

Die sandige Piste hinunter nach Barbate führt am Rand des Naturschutzgebiets entlang. Steinpinien, soweit ich sehen kann, säumen meinen Weg ans Meer. Ein grüner Wald, so dicht stehen die Bäume, die sich als gewelltes Dach bis an den Horizont dehnten. Ich habe noch immer Nightwish im Ohr. Als ich in diesen Wald einbiege, um mich herum nichts als Ocker und Grün, erklingen die ersten Akkorde von Over the hills and far away. Es ist so leicht, beim Wandern enthusiastisch zu werden. Nur wer es selbst erlebt hat, kann es nachempfinden. Es zu beschreiben, fällt schwer, da die Sprache nicht für alles Worte hat. Auf dem Weg nach Barbate, umgeben von Pinien, die in der flimmernden Hitze des Nachmittags harzig duften, beflügelt von den treibenden Metalriffs, überflutet mich ein Gefühl von Schwerelosigkeit, Begeisterung und Glückseligkeit. Naturbreit. Keine andere Bezeichnung drückt diesen Zustand besser aus. Es sind diese Augenblicke, in denen alles stimmt, nichts fehlt, und ich nichts weiter brauche. Ich bin mit mir und der Welt im Lot. Ewigkeitsmomente! Ein Grund zu wandern, denn beim Gehen durch die Natur kommen sie immer wieder vor. Doch sie bleiben nicht, darum muss ich gehen. Das tiefgrüne Dach der Kronen der Pinien ist lückenlos, die Bäume überlappen sich und breiten sich in sanften Wellen in alle Richtungen aus. Sie erinnern an Moospolster, über deren weiche Rundungen ich mit der Hand streichen möchte. Aus der Nähe betrachtet sehe ich ihre spitzen Nadeln. In den Zwickeln sitzen karamellbraune Samenkapseln. Durch eine Lücke in dem Grün sehe ich auf dem gegenüberliegenden Kamm das weiße Vejer in der Sonne leuchten. Der Ort ist nur ein weißer Streifen, eingeklemmt zwischen dem Blau des Himmels und dem grünen Land. Der Windpark, in dessen Schatten ich vor Stunden gewandert bin, Säulen klein wie die Zahnstocher, die in baskischen Pinchos stecken.

Eine letzte Biegung. Zwischen dem Grün des Waldes tauchen die ersten Häuser von Barbate auf, farbig bemalt in der Sonne. Der Wind hat sich auf der langen Piste von mir verabschiedet. Es ist heiß geworden. Vom Meer ist nichts zu sehen. Ich muss ganz hinunter nach Barbate steigen. Das Meer, an dem das Städtchen liegt, befindet sich auf der anderen Seite. Ich komme in einem Vorort aus dem Wald heraus, unansehnlich, sozialer Wohnungsbau. Die Straßen und Gassen, durch die ich in die Stadt gehe, kreuzen sich rechtwinklig. Aus der Luft gesehen, ein Schachbrett. Ich gehe geradeaus, biege rechtwinklig links, dann wieder rechts ab, und so weiter, bis mich die Gassen auf die Hauptstraße entlassen, die den Ort in zwei Teile teilt: meerwärts und bergwärts. Keine Kurven, nichts Verwinkeltes, keine Schwierigkeiten, mich zu orientieren. Einen langen Sandstrand gibt es auch, aber der Ort ist so unattraktiv wie eine Provinzstadt nur sein kann. Aus der Perspektive des Touristen betrachtet, der kommt, die Sensation sucht, fotografiert und weiterreist. Barbate schläft den Schlaf der Vorsaison. Als ich am Bushof eintreffe, ist der Bus zurück nach Vejer gerade abgefahren. Ein anderer Bus trifft ein. Endstation. Der Fahrer entlässt seine Passagiere in einen düsteren, ummauerten Hof, denn mehr ist der Bushof nicht. Unter ihnen ein junges Paar, zwei Hippies auf Zeitreise. Barfuß, tätowiert, lange Haare, Dreadlocks mit bunten Bändern. Farbenfroh sind sie gekleidet, soweit sie überhaupt bekleidet sind. Ein kleiner Rucksack, eine Plastiktüte, mehr brauchen sie anscheinend nicht. Zielstrebig streben sie dem Ausgang zu, während ich einem nostalgischen Gefühl nachhänge. Mein Bus verlässt Barbate in drei Stunden. Ich habe genügend Zeit, um auf müden Füßen durch den Ort zu schlendern, immer bemüht, im Schatten zu bleiben, denn Sonne hatte ich für diesen Tag genug. Barbate ist schön, barbarisch schön, weil ihm der Tourismus fehlt, und spanisch bis ins Mark. Eine belebte Hauptstraße, in den Vierteln die aufdringliche Ruhe der nachmittäglichen Siesta, zumeist leere Gassen, ein paar spielende Kinder, hastig geräumte, nun geschlossene Cafés, Passanten, die schnell auftauchen, und um die nächste Ecke wieder verschwinden. Ich flaniere durch die leeren Gassen auf der Suche nach Atmosphären, nach Gerüchen, Geräuschen und Bildern Barbates. Auf den leeren Strand schiebt der Wind hohe Wellen. Im Hinterhof des Bushofs warten die Passagiere, als ich zurückkomme. Die Siesta ist beendet und der Ticketschalter, anders als vor drei Stunden, wieder geöffnet. Gemeinsam warten wir auf die Abfahrt des letzten Busses.

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