Donnerstag, 30. April 2020

Sierra de Almijara


The road goes ever on and on
Down from the door where it began
But far ahead the road has gone
And I must follow if I can

John Ronald Reuel Tolkien

Ich weiß, dass ich nicht der Einzige bin, der die besten Gedanken beim Gehen hat, und dass unterwegs die Freiheit grenzenlos werden kann. Dann, wenn Alltag und Routine, Kreativität tötende Verpflichtungen und gegenseitige Erwartungen, die kleinlichen Zumutungen und Bedenklichkeiten, die Unsicherheiten und all das, was nicht wirklich in mein Leben gehört, zurückgelassen werden. Mit allem muss ich mich auseinandersetzen, damit die Welt um mich funktioniert. Doch ich weiß auch, dass die individuelle Lebenswelt immer wieder für eine Weile verschwinden und in der Bedeutungslosigkeit versinken muss. Bevor diese Freiheit gewonnen ist, muss man sie erwerben, muss man lernen, frei zu sein, muss man sich bemühen, herausfordern lassen und bewähren. Das zumindest hat die Freiheit mit dem Alltag gemeinsam, wenn auch das Ergebnis völlig verschieden ist. Eine Schnittstelle zwischen alltäglicher Lebenswelt und individueller Freiheit sind lange Wanderungen und Fußreisen; gelegentlich ermöglicht das auch ein Spaziergang, wenn er zum richtigen Moment passiert. Freiheit, das ist wichtig, lässt sich nur realisieren, wenn auch alle anderen frei sind. Es reicht nicht aus, die Regierungsform zu wechseln, die Geisteshaltung der Menschen muss sich ändern. Ein hoher Anspruch, ich weiß das. Ein Dilemma.

Ein Reisetag ist kein Ruhetag. Überall hin fahren Busse, aber nicht jede Verbindung führt ohne Unterbrechung ans Ziel. Dann heißt es, sich in Geduld üben, zu warten, sich auf irgendeinem Bushof die Zeit zu vertreiben. Es wird eine umständliche Reise in das nur zwölf Kilometer von Nerja entfernte Cómpeta. Ich muss fast zurück nach Málaga, nach Torre del Mar; dann quer durch den Ort den Bushof wechseln. Schon am Morgen hat der Himmel mit Regen gedroht. Jetzt gießt es in Strömen. Mir ist kalt. Ich habe alle Kleidung aus dem Rucksack übereinander angezogen. Trotzdem wird mir nicht warm. Milchkaffee und in Schinken gerollte, heiße Datteln helfen ein wenig. In der Bar ist es zugig, und die Wärme des heißen, belebenden Kaffees verfliegt schnell. Irgendwann zieht der Regen weiter und lässt nur kühle Luft zurück. Schüchtern sucht die Sonne eine Lücke zwischen den abziehenden Wolken.

Nach Cómpeta geht hoch hinauf in die Berge. Der Küstenstreifen an der Costa del Sol ist nur schmal. An manchen Stellen reicht das Mittelgebirge bis ans Meer, das sich an seiner Basis austobt. Die Landschaft, durch die sich der Bus die enge Straße hinaufwindet, wird von grünen Hängen bestimmt, auf denen die gelben Blüten des Ginsters die Herrschaft übernommen haben. Überall dazwischen graue Flecken, nackter Kalkstein, den der gelbgrüne Teppich mühsam bedeckt. Aus der Ferne, durch das Busfenster betrachtet, eine pointillistische Idylle, in der nur die Schafe und Ziegen fehlen. Kein Barock oder Biedermeier, kein Flöte spielender Hirte, keine badende Nymphe, keine Herde, nicht einmal ein Maultier. Kein Laut. Nichts, außer dem Brummen des Motors, der sich aufwärts müht. Nichts bewegt sich auf den Hängen. Mittagsstille! Zwischen den Bergen öffnen sich Lücken, durch die ich hinunter auf das schaumgekrönte, blaue Mittelmeer blicken kann. Auf den Kämmen und Kuppen dieser wild-romantischen Bergkulisse strahlen weiße Dörfer in der Sonne, wenn die einmal die Wolkendecke durchbricht. Vage Silhouetten nur, weit entfernte weiße Streifen zwischen den grünen Hügeln. Sie sind eine Reflexion, der Widerschein ihrer aquatischen Schwester. Eine Landschaft für Schäfer und Wanderer. Ein Rückzugsort. Noch Jahre nach Francos Machtergreifung hat die antifaschistische Guerilla in diesen Bergen erbittert gegen das totalitäre Regime gekämpft. David Baird erinnert in seiner Erzählung Between Two Fires an diese Guerilla und setzt ihnen ein literarisches Denkmal. Die Sierras zwischen Málaga und Almería sind ein wildes Land. Die wenigen Kilometer Küste, die Costa del Sol, Costa Tropica oder Costa Almería heißen, hat der Tourismus schon vor Jahrzehnten erobert und gezähmt. Gelangweilt täuscht die Küste über den wahren Charakter der andalusischen Landschaft hinweg. Schon der erste Höhenzug wirkt wie ein gigantischer Riegel, der das Innere dem Blick entzieht. Die Küste ist die Fassade Andalusiens, das seinen Charme verbirgt; erobert werden will. Leider auch sein Schaufenster. Jenseits des Kamms ändert sich die Landschaft dramatisch. Kalksteingipfel und -felsen und Gerölle in allen denkbaren Formen soweit das Auge reicht. Kaum Spuren von Besiedlung. Einödhöfe findet man häufiger als Dörfer. Ein markanter Kontrast: Andalusien am Meer und Andalusien in den Bergen. Cómpeta liegt im Grenzgebiet der beiden Gebirgslandschaften La Axarquía und der Sierra de Almijara, zwei Sierras; wörtlich Säge. Ein hübsches Wortspiel für die schroffen Berge und Kettengebirge jenseits der Costa del Sol. 1791 Meter ragt der Gipfel des Matalas Camas in die Höhe; ihr höchste Punkt. Tiefe Schluchten gliedern Kalksteingebirge, wo immergrüne Macchiensträucher und Kiefernwälder die Hänge bedecken. Im Hinterland gibt es viele Gegenden, die nur zu Fuß erreichbar sind. Die Sierra de Almajara und der Parque National Sierras de Tejeda, Almijara y Almaha sind ein sprödes, aber greifbares Paradies.

Weiße Dörfer! Noch etwas, das Andalusien repräsentiert. Auch anderswo gibt es weiße Dörfer, doch man spricht nur mit diesem ehrfürchtigen Unterton, wenn es sich um andalusische weiße Dörfer handelt. Ein Ton, der aufhorchen lässt. Für mich haben die Dörfer etwas Geheimnisvolles, das an Geschichte und Geschichten denken lässt. Sie sind alt, sie verbergen es nicht, denn ihnen hängt etwas Stolzes an. Sie gehören hierher, keine Frage, denn ihre Präsenz ist mit dem Gelände verwachsen. Sie lösen ein Gefühl aus, das mir bunte Bilderbögen schenkt, die mich inspirieren. Gedanken tauchen auf, gebildet aus tausenden Splittern, die von Menschen, ihren Taten und ihren Sehnsüchten erzählen. Die weißen Dörfer Andalusiens und ihre Geschichte sind so sehr ein Teil der Landschaft wie es eine Stadt nie sein kann.

Cómpeta, früh am Morgen. Ein Dorf mit maurischen Wurzeln. Compita orum, Wegkreuzung, ein Name, der auf die Römer zurückgeht. Der Ort liegt an der Kreuzung einer alten Handelsstraße: aus Granada und den Alpujarras, aus Torrox und Vélez-Málaga Viertausend Einwohner hat der Ort, dessen Schutzpatron der Heilige Sebastian ist, dessen Fest das Dorf Ende Juli mit einem Jahrmarkt feiert. Die Gassen, durch ich komme, liegen noch im Schatten. Cómpeta, eins der malerischen Weißen Dörfer, die den Besucher schnell die Tristesse der Städte vergessen lassen, in denen er lebt. Wahrscheinlich gibt es niemanden, der nicht von Sehnsucht ergriffen wird, und bleiben will; bei den Feen, glücklich unter ihrem Hügel. Doch dieser Traum platzt irgendwann, und die Realität kehrt zurück, spätestens, wenn er wieder zu Hause ist. Dann sind es die Erinnerungen, denen er nachspüren kann. Ich kann davon erzählen, wie es anderswo gewesen ist! lautet sein Credo. Reisen und Schreiben gehören für mich zusammen.

Cómpeta ist ein Weißes Dorf, dass sich auf einem Berghang niedergelassen hat. Seine Gebäude streben auf Terrassen einem tiefblauen Himmel entgegen, an dem sich wattige Kumuluswolken versammeln. Sie schmiegen sich eng den Kamm hinauf, fügen sich so in das natürliche Profil des Bergs ein, als ob es nie anders gewesen ist. Strahlend weiß leuchtet der Ort in der Sonne. Weit hinten in der Ferne, über den höchsten Bergen, deutet ein schmaler weißer Streifen auf die Sierra Nevada hin. Schnee, der in der Sonne glänzt. Cómpeta ist nicht immer so, daher bilde ich mir ein, willkommen zu sein. Ich steige am Fuß des Dorfes aus dem Bus aus Torre del Mar, dort, wo eine gepflasterte Straße auf den Hügel hinauf abbiegt. Die Straße windet sich immer steiler zur Plaza Almijara hinauf, die von Läden und Gastronomie umgeben ist. Seit den 1960er und 1970er Jahren übernahm der Tourismus die führende Rolle in Wirtschaft der Region. Der Dienstleistungssektor prosperierte und die Bevölkerung nahm wieder zu, nachdem sie nicht mehr einseitig vom Weinbau abhängig war. Im Zentrum des Orts versammeln sich die Touristen, gerade genug, und nicht zu viel, dass es störend ist. Die barocke Iglesia de Nuestra Señora de Asunición fühlt sich an den Rand gedrängt; innen niemand weit und breit. Die Kirche Maria Himmelfahrt liegt auf einem Geländesporn. Von ihrer leeren Terrasse habe ich einen weiten Blick auf die umliegende Landschaft, auf die Berge in den vielen Grüntönen und die fast schwarzen Partien der schattigen Täler. Wer sich Cómpeta nähert, sieht zuerst die Kirche. Ihr rotbrauner Turm ragt wie ein Minarett aus den verschachtelten, weißen Häusern. Wie Frigiliana ist Cómpeta eine urbane Perle in der Landschaft. Selten wird mir die Unterschiedlichkeit von Natur und Kultur so bewusst, wie in dem Moment, als mein erster Blick hinter einer Kurve zum ersten Mal auf Cómpeta fällt. Wer dies sieht, dem fällt es leicht, sich die Unterschiedlichkeit der Geschlechter vorzustellen: die weichen, fließenden Formen der Landschaft, das harte, kantige Weiß des Dorfs. Die letzten Mauren verließen diese Berge erst Ende des 15. Jahrhunderts. Als Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, die Katholischen Könige, Málaga zurückerobert hatten, zog sich die islamische Bevölkerung in die schwer zugängliche Landschaft zurück. Achthundert Jahre lebten und herrschten die Mauren in Andalusien. Wen wundert es, dass sie zahlreiche Spuren zurückließen. Die Namen der Dörfer und Landschaften erinnern an ihre arabischen Erbauer. Die niedrigen, dem Profil des Geländes angepasste Struktur und Architektur der Dörfer; die gewundenen, engen Stufengassen; die Straßen überspannenden Bögen; die kleinen Plätze; die nackten Fassaden der nach außen abweisend wirkenden Häuser; die reich geschmückten Innenhöfe mit ihren Blumenarrangements, Brunnen und schmiedeeiserner Handwerkskunst. Ein Atrium für entspannte Mußestunden in schattiger Umgebung. Ein kleiner Paradiesgarten in der Sommerhitze Andalusiens. Klimatisch war Andalusien für die afrikanischen Eroberer vertrautes Land, das ihnen leicht zur Heimat werden konnte. Die Hanglage der Dörfer im Schutz einer Bergflanke erinnert bis heute an die Berber Nordafrikas.

Oberhalb von Cómpeta beginnt ein Wanderweg, der in eine Berglandschaft führt, grau und anthrazit, schroff und kantig. Schmale, steil verlaufende Kämme und fallende Hänge. Aus der Ferne sehen die Berge aus wie aus Papier gefaltet. Sie gefallen sich in Distanz und Unnahbarkeit. Von weitem betrachtet haben die Berge nichts Anziehendes. Ihre graue Schroffheit wirkt zurückweisend. Erst mittendrin entfalten sie ihren unwiderstehlichen Charme: zuerst das Durchqueren ihrer eng aufeinander folgenden Schluchten und Täler, in denen sich Bäche und Flüsse aus den Hochlagen ihren Weg ins Meer bahnen, dann der Aufstieg auf einen ihrer Gipfel mit spektakulärem Rundblick, der Wechsel von Bergwald und Heidelandschaft, das Auf und Ab in wechselnden Atmosphären, die seltenen gelben und violetten Blüten zwischen einem frischem Hauch von Frühlingsgrün, wie über den steinigen Grund gesprüht. Überlebenskünstler, die sich ihre eigenen Nischen erobert haben. Alte Passwege und Maultierpfade, die wer weiß, welche Geschichten erzählen können. Es ist nicht allein die Landschaft, es ist das Wissen über eine Landschaft, die ihre Eigenart ausmacht. Die Ereignisse, die in den Jahrhunderten stattfanden, als Menschen sie durchquerten und sich in ihnen niederließen.

Der Gipfel des über zweitausend Meter hohen La Maroma drückt gegen die Wolken. Den ganzen Tag wandere ich in seinem Schatten. Über die alten Pfade, die einst von Schmugglern, Banditen und Rebellen benutzt wurden. Ich stelle mir das gerne vor, so einsam und wild erscheint mir das Land. Es ist schwer vorstellbar, dass jemand hier entlang geht, die Mühen dieser Wege auf sich nimmt, der nicht vor irgendetwas flieht. Wer außer Hirten und Jägern kam hier entlang. Das Museo del Bandolero im weit entfernten Ronda erinnert daran: an die Epoche der Bandoleros des 18. und 19. Jahrhunderts, die es idealisiert und verherrlicht. Legenden, vermischt mit Fakten und Folklore, Taten von Großzügigkeit und Grausamkeit. Stolze, tatkräftige Männer, denen ihre Freiheit über alles ging: El Bandido Generoso, El Pernales, Pasos Largos, El Vivillo, El Tragabuches und El Tempranillo. Männer, die ihre Eigennamen abgelegt haben und nach ihrem Charakter benannt wurden. El Zorro, der literarische Archetypus, repräsentiert dieses Bild. Er ist ein Held jenseits der Anfechtungen eines Lebens unter feudalen Bedingungen, der spanische Robin Hood, der von den Reichen nahm und den Armen gab, ein Kämpfer gegen Unrecht, Unterdrückung und Ausbeutung, ein Guerillero und ein Terrorist, ein Dieb, Mörder und Erpresser, ein Verteidiger von Freiheit und Gerechtigkeit. Kaum vorstellbar, dass ein einziger Mensch diese Spannungen und Widersprüche aushalten kann. Die Pfade durch diese Berge sind alt. Sie waren vergessen, bevor die Wanderer sie wiederentdeckten. Die größte Population des iberischen Steinbock hat sich in diese Berglandschaft zurückgezogen. Gesehen habe ich keinen einzigen dieser genügsamen Kletterer, die im astrologischen Tierkreis Würde und Ausdauer symbolisieren. Vermutlich wird er sich allmählich wieder erholen, denn sein Bestand war durch die heftige Bejagung stark geschrumpft, sodass die gesamte Art gefährdet schien. Anders als sein Verwandter in den Pyrenäen hat sich der Iberiensteinbock jedoch inzwischen erholt. In Andalusien leben wieder dreitausend Individuen, streng geschützt, da sein Überleben noch nicht gesichert ist.

Ich verlasse Cómpeta früh morgens. Die engen, schattigen Gassen, durch ich komme, liegen noch im Schatten und schnell hinter mir. Ich stehe auf der Plaza de Vendimia in der warmen Morgensonne. Die jährliche Traubenernte, vendimia, bildet eine wichtige Zäsur im landwirtschaftlichen Zyklus der Region. La Noche del Vino eröffnet jährlich die Erntesaison mit einem Unterhaltungsprogramm, freiem Essen und Wein, Flamencoaufführungen und Wettbewerben, bei denen der Saft der Muskateller-Trauben mit bloßen Füßen ausgepresst wird. Lange Zeit war der Weinbau der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Die Schicksalsschläge des 19. Jahrhunderts, als die Rosinenpreise durch Billigimporte aus Kalifornien den Weltmarkt überschwemmten und die Reblaus den Weinanbau ruinierte, gehören der Vergangenheit an.

Ich folge der schattenlosen Asphaltstraße weiter hinauf, an den Dorfrand und in den Wald hinein. Der Weg ist in lange Schatten getaucht, die nur gelegentlich von der Sonne besiegt werden. Doch kaum ist sie ausgesperrt, wird es kühl. Das Profil der Berglandschaft unterscheidet sich kaum von meinen Wanderungen in der Axarquía. Fast zweitausend Meter hohe Berge, die von engen, V-förmigen Tälern gegliedert werden. Ich komme nur mühsam nach oben, so steil steigt der Pfad an. Auf den Gipfel oder einem Kamm angekommen, geht es sofort wieder hinab, gleich hinauf auf den nächsten Pass. Der Weg hinunter ins Tal fällt so steil ab, dass ich nicht gehen kann, sondern im Laufschritt abwärts muss. Die steilen, steinigen Pfade sind kaum einen halben Meter breit, führen eng am Berg vorbei. Auf beiden Seiten steile Hänge, auf denen alle möglichen Sträucher und Bäume wachsen. Manchmal auch senkrechte Felswände. Es ist eine anstrengende Kletterei über Felsen, Geröll und kantigen Kalkstein. Doch bin ich erst oben, mit dem weiten Blick über die Welt, überkommt mich jedes Mal ein Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung. Es gibt nichts Vergleichbares, nichts, das Berauschender ist. Ich verstehe Goethe, und die Dichter und Philosophen der Romantik, die das Wandern entdeckt haben. Wenn ich auf dem Gipfel stehe und in die Welt hinausschaue, den blauen, grenzenlos scheinenden Himmel über mir, werden meine Gedanken und Gefühle poetisch. Wäre ich nicht so sehr mit Wahrnehmen und Spüren beschäftigt, ich würde dichten.

Am nächsten Tag bin ich wieder unterwegs. Es fällt mir schwer, in dieser Landschaft ruhig zu Hause zu bleiben. Ich gehe hinauf nach Canillas de Albaida, die Weiße, der weiß getünchten Häuser wegen. Ein im 13. Jahrhundert gegründetes, maurisches Dorf, denn albaida heißt die weiße Farbe im Arabischen. Das Dorf liegt nordöstlich von Cómpeta, am Fuß der Sierras de Tejada y Almijara in einem Tal, das von den Flüssen Cájula und Turvilla geprägt wird. Noch ein Name, der alles Mögliche verheißt, ohne dass ich es fassen kann. Die maurischen Ortsnamen, die trotz Reconquista, Massakern, Vertreibung und katholischer Missionierung wie selbstverständlich im Spanischen erhalten blieben, üben einen eigenartigen Zauber auf mich aus. Namen, die ein Geheimnis tragen, das ich wissen will: politisch, militärisch, narrativ. Sie klingen nach Geschichte, nach Sagen und Legenden, und nach Märchen. Sie beschwören Begebenheiten, die sich einst zutrugen. Heutzutage führen die Dörfer in den Bergen eine geruhsame Existenz. Dörfer auf dem Altenteil. Und trotzdem flüstern sie mir noch immer zu, wenn ich durch ihre Gassen streife. Ich muss hingehen, ohne besondere Absicht oder Erwartung, einfach nur um nachzusehen, was dort zu finden ist. Ob sich mehr hinter diesen Namen verbirgt als die nüchterne Oberfläche der Architektur.

Das Dorf scheint ausgestorben als ich ankomme. Es ist früh am Morgen, und noch lange nicht Siesta. Die Gassen, die sich am Hang entlang schlängeln, auf und ab, liegen verlassen. Nur die Kübel und Töpfe mit blühenden Blumen vor den Eingängen oder auf den Fensterbänken, eine blühende Kletterpflanze die an einer Pergola in die Höhe strebt. Die kleine Plaza, ein langes, schmales Rechteck, an der hoch aufragenden Iglesia de Nuestra Señora de la Expectación, ist von eingeschossigen Wohnhäusern umgeben, die eng an sie gerückt sind, sodass der Platz nicht mehr als ein erweiterter Gang ist. Vor einer Bar stehen Tische und Stühle. Zwei Besucher sitzen unter einem Sonnenschirm, vertieft über eine Karte, und trinken Kaffee. Sonst niemand. Ich bin nicht sicher, ob die Bar, trotz der offenen Tür, nicht doch geschlossen ist. Hinter dem Tresen putzt eine ältere Señora Gläser. Im Halbdunkel der engen Bar wirkt sie deplatziert in ihrem eleganten, roten Kleid. Erfreut, mich zu sehen, scheint sie nicht, doch einen Kaffee macht sie mir. Die Plaza liegt halb im Schatten, die Sonne hat es noch nicht über das hölzerne Kirchendach mit dem Turm geschafft. Sie fühlt sich unbehaglich an, die Stille und die Distanz, in die sich drei Menschen gehüllt haben, die Frau in der Bar und die beiden Kartenleser. Im kühlen Schatten vor der Kirche empfinde ich Canillas de Albaida ablehnend und ungastlich. Ich bin nicht länger neugierig auf die Geister, die in ihren Nischen und Winkeln hausen.

Ich mache mich schnell auf den Weg, zurück an den Dorfrand. Über unregelmäßige, steinige Stufen führt eine Serpentine an der Flanke des Bergs hinab, ein inoffizieller Pfad, ein Wunschweg, eine Abkürzung, die Menschen gern ins Gelände treten. Über mir auf dem Berg thront das Dorf in der Morgensonne, während ich hinunter ins Tal des Río Cájula stolpere, eine Hand an einem Holzgeländer, das wenig Stabilität verspricht. Unten schmiegt sich eine asphaltiere Landstraße an das Bett des kleinen Flusses. Ein Stück flussaufwärts steht eine Mühle, an der eine Brücke über den Fluss führt. Auf der rechten Uferböschung beginnt ein schmaler Pfad, der den Fluss immer wieder kreuzt. Ich wandere unter rosa blühendem Oleander, vorbei an Orangen und Avocadobäumen, die ihre Früchte feilbieten. Der Pfad ist schmal, kaum einen Fuß breit, und verliert sich immer wieder im Gras. Einige hundert Meter in das Flusstal, zwischen und unter die Büsche, und ich bin allein mit dem Plätschern und Gurgeln des Wassers. Es gibt wenig Angenehmeres und Entspannenderes als an einem warmen Tag am Ufer eines kleinen Flusses entlang zu wandern, und alle Zeit der Welt zu haben, in einer Atmosphäre, in der es mir leicht fällt, mich mir selbst, meinen Empfindungen und Gedanken zu überlassen. Nach einem steilen Aufstieg durch schulterhohes Gestrüpp stehe ich gegenüber auf dem nächsten Hügel, die bewaldeten Hänge der Sierra de Tejeda zu Füßen. Zu Fuß durch eine solche Landschaft zu gehen, in sie einzutauchen, und sie eigenen Leib zu spüren, ist Mittel und Zweck, Reise und Ziel.

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