wanderlust! rentlessly craving
wanderlust peel off the layers
until you get to the core
[...]
rentlessly restless restless rentlessly
Björk, MoMa, 2015
Das Besondere an meinen Reiseerzählungen besteht darin, dass sie selbstreferenziell sind. Das ist auch nicht anders möglich, denn Wandern, richtig betrieben, wird zu einer sehr persönlichen Angelegenheit. Grundsätzlich gibt es nur zwei Arten zu wandern: allein oder in Gemeinschaft. Mit dem Herzen oder dem Verstand. Allein zu wandern ist beschaulich und meditativ, gemeinsam zu wandern sozial und kommunikativ. Beides gleichzeitig schwer möglich, es sei denn, man sondert sich ab. Doch dann bricht man besser gleich allein auf. Es gilt, eine Wahl zu treffen. Meine Erinnerungen, Notizen und theoretischen Randbemerkungen über das Gehen handeln von mir: von meinem Empfinden, meinen Gefühlen und meinen Gedanken. Es gelingt mir nicht, das Wandern von meiner psychischen Befindlichkeit zu trennen. Es geht auch nicht darum, jemandem irgendwelche Ratschläge zu geben, dafür zu sorgen, dass er ausgetretenen Wegen folgen kann. Mir ist es wichtig, anzuregen, eine ganz bestimmte Haltung und Sichtweise zu fördern, die in der Überzeugung gipfelt: Die Zeit zur Wiederentdeckung der Landschaft ist gekommen. Gehen ist die natürlichste Fortbewegung des Menschen. Gehen entspricht seiner eigentlichen Natur, denn zu gehen liegt dem Homo sapiens, der ein Homo viator ist, im Blut. Wir sind Bewegungswesen. Es liegt an der modernen Entfremdung des Menschen von der Natur, dass er das Gehen aufgegeben hat. Nun glaubt er, nicht mehr gehen zu müssen, stelle einen Fortschritt dar. Der zunehmende Niedergang des Gehens wirkt sich so katastrophal aus, wie die künstliche Trennung von Körper und Psyche oder die Entfremdung des Menschen von der Natur. Die Hegemonie der Kultur über die Natur, des Körpers über das leibliche Spüren, hat ihren Zenit erreicht und ist nicht länger zukunftsfähig. Diese Perspektive ist mehr als eine Idealvorstellung, die zu einem guten Leitmotiv taugt. Mir scheint es wichtig, darauf hinzuweisen, dass besonders absichtsloses Gehen, Flanieren oder Spazierengehen, eine einzigartige Wahrnehmung der Welt ermöglicht. Näher und intensiver als zu Fuß kommt uns die Umgebung, in der wir uns bewegen, nie. Zu Fuß spüren wir die Welt am eigenen Leib. In den vorausgegangenen Erzählungen war immer wieder davon die Rede.
Eine weitere Besonderheit, die das Gehen auszeichnet,
ist die Langsamkeit der Bewegung, mit der es vollzogen wird. Entschleunigung
und Nachhaltigkeit, wer diese beiden Begriffe ernst nimmt, hat plötzlich keine
andere Möglichkeit mehr, als wieder zu Fuß zu gehen. Jedenfalls so oft wie
möglich. Vor sieben Jahren habe ich mein Auto abgeschafft, mir ein Fahrrad
gekauft, und mir vorgenommen, keine Rolltreppe und keinen Aufzug mehr zu
benutzen. Daran habe ich mich gehalten, bis auf die wenigen Male, in denen es
keine Treppen gab. Vor drei Jahren bin ich aus einer Laune heraus, dem
mysteriösen Ruf aus Nirgendwo gefolgt, habe angefangen zu wandern. Seitdem bin
ich fast fünftausend Kilometer zu Fuß gegangen, von meinen zahlreichen
Stadtspaziergängen ganz abgesehen.
Schon als ich noch jung war, hat es mich
hinausgezogen. Zuerst in der Vorstellung, dann in der Wirklichkeit. Dorthin,
was für mich immer wieder die Welt war. Weit fort von Zuhause musste es sein.
Fürs erste genügte Europa, aber nicht weniger. Mit Jack Kerouacs On The
Road im Gepäck, mit Bob Dylan im Ohr und den Daumen im Wind reiste ich
einige Jahre in den Süden, immer ans Mittelmeer. Wie es für den westlichen Tourismus
seit den zwanziger Jahren üblich ist, besuchte ich alle die Orte, deren
geheimnisvolle und malerische Namen einen Mikrokosmos evozierten, den es hinter
ihrer Fassade scheinbar zu entdecken gab. Ich bewegte mich auf ausgetretenen
Pfaden an Gestade, die heute verdorben sind. Die Frage, warum ans Meer, kann
ich nicht beantworten. Vielleicht weil das Meer mein Sinnbild für das völlig andere
ist. Als ich einer Gruppe exotisch gekleideter, braungebrannter Hippies,
langhaarig, mit Perlen und Bändern im Haar, auf einer Fähre in der Ägäis
begegnete, die aus Indien heimkehrten, erfasste mich die Faszination der Magie
des Orient. Später verbrachte ich Jahre in Asien. Auf die Idee, in Deutschland
zu reisen, zu Fuß Länder und Landschaften zu durchstreifen, kam ich in diesen
Jahren nie. Deutschland, das war viel zu sehr die miefige, kleinbürgerliche
Atmosphäre meiner Kindheit in den Fünfzigern. In meinen Bedürfnissen
unterdrückt, ungefragt in den Katholizismus gezwängt, wurden Freiheit und
Selbstbestimmung zu wichtigen Werten, die ich im Fortreisen verwirklichen konnte.
Es war wichtig, weit fortzugehen, um mich von Ideologien zu verabschieden. Frei
sein war das Leitmotiv dieser Jahre. Seit ich älter geworden bin, kann ich
diesen Zusammenhang erkennen, und die Illusion, die darin liegt. Eine schöne,
verführerische Illusion, sicher, aber sie hat mir in meinem Leben viel gegeben.
Ich bin immer noch gerne am Meer, inzwischen noch lieber im Wald und in den
Bergen, weil die Flüchtigkeit des Moments nicht mehr in mein Leben passt. Ich
schätze mittlerweile Kontinuität und Ruhe, die Langsamkeit und den Augenblick,
die ich in den hellen Laubwäldern der europäischen Mittelgebirge finde. Es gibt
nichts Schöneres als die Gelassenheit, die die Wälder ausstrahlen, die
bezaubernde Atmosphäre, ihren Anteil an der Ewigkeit. Gleich zwischen Berg und
Meer zu wandern, ist mir am liebsten. Ich bedauere meine von zwei Kriegen
traumatisierten Eltern, die nichts von diesen Dingen wussten, weil sie nie erleben
konnten, was es bedeutet, ein Leben ohne Angst selbstbestimmt zu leben. Was
sonst ist Freiheit, wenn nicht das.
Die schönste Form des Gehens ist das Wandern. Ulrich Grober, auch ein schreibender Wanderer, spricht von einer alten Kunst, wenn er von seinen Wanderungen erzählt. Wandern ist nicht die bequemste Art der Fortbewegung, aber CO2-neutral und nachhaltig. Muskelkraft ist eine erneuerbare Energie. Das wird viel zu oft vergessen, wenn es um Mobilitätskonzepte für die Zukunft geht. Der Mensch geht täglich durchschnittlich nur noch vierhundert bis achthundert Meter zu Fuß. Die meiste Zeit des Tages verbringt er sitzend in geschlossenen Räumen, ist kaum mehr an der frischen Luft und noch weniger in der freien Natur. Unter diesen Bedingungen bedeutet Wandern einen Einspruch zu erheben gegen das Diktat der Beschleunigung und der Leistungssteigerung. Im Zeitalter der Hypermobilität ist zu Fuß gehen subversiv. Wanderglück ist nicht käuflich, ergänzt Ulrich Grober, eines der wenigen Konsumgüter, die keinen Preis haben, die es umsonst gibt. Die Bewegung gegen die herrschende Leistungs- und Beschleunigungsgesellschaft liegt in der Verweigerung des verordneten Konsums zugunsten der freien Entscheidung darüber, was mensch braucht und was nicht. Eine gelungene Wanderung macht Lust auf Leben und Selbstbestimmung, auf den selbst organisierten und verwalteten Gebrauch von Zeit und Raum. Was wir brauchen ist eine neue Kultur der Geschwindigkeit, der Langsamkeit in Gebrauch und Verbrauch, eine nachhaltige Philosophie der Mobilität. Autos dagegen sind ein Gegenstand der Mythologie. Dem Autofahren hängt ein Nimbus des Übernatürlichen an, es ist magisch. Autofahren ist Mythologie in Aktion. In seinem Essay über den neuen Citroën DS, den Roland Barthes 1955 auf dem Pariser Autosalon gesehen hat, fand er einen überraschenden Vergleich. Er glaubt nämlich, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist: eine große Schöpfung der Epoche die, mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern geschaffen wurde. Mit dem Auto fährt Barthes fort, hat sich der Mensch ein magisches Objekt zugerüstet und angeeignet. Doch es ist wie mit anderen Epochen der Vergangenheit auch, sie hatten ihre Zeit und verfielen, bis auf weniges, dass als Kunst bewahrt wird. Wenn etwas nicht mehr zeitgemäß ist, verändert sich das Wertgefüge einer Gesellschaft. Jetzt bewegt sich die Menschheit aufs Neue, suchend und im Übergang zweier Epochen. Manche glauben sogar, wir befinden uns mittlerweile mitten in einen Paradigmenwechsel. Das Auto der Zukunft wird mit Sicherheit ein anderes sein. Die Gelegenheit, gleichzeitig auch ein anderes Verhältnis zur Geschwindigkeit zu bekommen, erscheint mir augenblicklich noch eine Vision zu sein.
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