Donnerstag, 23. April 2020

El Casco Antiguo


nach der wanderung
tauche ich meine füße
tief ins abendrot

Cádiz ist die älteste Stadt Europas, im äußersten Südwesten des europäischen Kontinents. Und noch immer ist sie die Westlichste, und zugleich die Südlichste. Von allen Seiten meergeküsst. Ein schmaler Streifen dem Atlantik abgetrotzte Erde verbindet die Stadt mit dem Land. Cádiz ist meine letzte Wanderung. Dann ist es vorbei. Die Zeit zerfließt, und Dalis weiche Uhren erscheinen plötzlich real. Ein weißes Kaninchen kreuzt meinen Weg und ein Siebenschläfer denkt über verändertes Bewusstsein nach: zu atmen, wenn ich schlafe, ist dasselbe wie zu behaupten, ich schlafe, wenn ich atme. Gleiches kann man auch vom Gehen sagen. Grace Slick, die Frontfrau von Jefferson Airplane, inspiriert diese Alice-Replik auf dem legendären Woodstock-Festival 1969 zu einer Hymne, die sie der Hippie-Gemeinschaft entgegenruft: when logic and proportion have fallen sloppy dead / remember what the dormouse said / feed your head, feed your head. Wenn ich will, kann ich die alltägliche Realität verwerfen, wenn sie nicht zu meinen Träumen passt.

Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel. Sich aber in einer Stadt zu verirren, wie man sich in einem Wald verirrt, dazu braucht es Schulung. Hätte ich es nicht selbst erlebt, ich glaubte Walter Benjamin kein Wort. Er spricht von Berlin, während ich Cádiz entdecke, und mich bemühe, mich täglich neu zu verirren. Ich strebe danach, ihm ein guter Schüler zu sein. Ich träume von einem eigenen Plan von Cádiz, nicht dem Bogen Papier, den man Touristen in die Hand drückt, mit dem sie dann versuchen, sich in den Gassen der Altstadt zurecht zu finden. Im Barrio del Pópulo sieht man sie zu Hunderten, besonders dann, wenn die Kreuzfahrtschiffe eintreffen. Mittlerweile ist Cádiz, neben Málaga, zum größten Hafen für schwimmende Dörfer geworden, die alle anderen Gebäude am Hafen überragen. Ich träume von einem Plan der Empfindungen, des Spürens, der Gefühle und der Gedanken, von einem Stadtplan, der mehr ist als graphisch, der all das kartiert, was eine Atmosphäre ist, eine unentwirrbare Ganzheit mannigfacher Eindrücke ganzheitlich wahrgenommen. In einer endlosen Folge von Augenblicken. Einen Plan für sehr geruhsame Leute, für Spaziergänger, für Trödler und Flaneure, für die, die Zeit zu verlieren haben. Für solche, die Cádiz auf den ersten Blick lieben.

Ein Flaneur ist jemand, der umherschlendert, der das planlose Zu-Fuß-Gehen genießt, sich umschaut, der immer wieder stehen bleibt, und in den Anblick, der sich ihm bietet, versinkt, ihm die sinnliche Essenz abgewinnt. Als literarische Figur geboren und von seinen Erfindern ausprobiert, streift er durch die Gassen, Straßen und Passagen der Städte, treibt mit der anonymen Menschenmenge; er schwimmt mit ihnen im Strom. Sie bieten ihm die kleinen Beobachtungen und den Stoff für Reflexion und Erzählung. Das französische Verb flâner, spazieren, entstand in seiner heutigen Bedeutung im 19. Jahrhundert. Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire und E.T.A. Hoffmann gebührt die literarische Ehre, Erfinder des Flaneurs zu sein. Damals entstanden die ersten Millionenstädte: London 1810, Paris 1850, Berlin folgte 1870. Mit E.A. Poes Mann in der Menge betritt der Flaneur die Bühne der Literatur. Bevor er sich selbst unter die Passanten mischt, sitzt der Ich-Erzähler seiner narrativen Skizze am Bogenfenster des Londoner Cafés D. und beobachtet die auf der Straße vorbeiziehende Menge, in jener glücklichen Stimmung, da man alles andere eher empfindet als Langeweile. Die Sinne sind wacher als sonst, die Schleier lüften sich von den inneren Visionen, und die Gedanken sind geradezu elektrisch geladen; [...] Ich empfand ein ruhiges und dabei regsames Interesse an allem und jedem. In seinem Werk spricht Charles Baudelaire von den Botanikern des Gehsteigs, die in die Metropole eintauchen, um sie zu verstehen. Im 19. Jahrhundert bewegte sich der Flaneur langsam, blasiert und dandyhaft, stellte der Öffentlichkeit der Straße seinen wachen, verfeinerten Blick zur Schau, seine Intellektualität, wie Poes erzählendes Ich oder E.T.A. Hoffmanns Protagonist in Das öde Haus.Er versucht die Straßen zu lesen, die Gesichter der Passanten in der Menge, die Fassaden der Gebäude. Der sozialistische Autor Ernst Dronke, Mitstreiter von Karl Marx und Friedrich Engels, nennt sie in seinem Buch Berlin beim Namen: die Eckensteher, die Müßiggänger und späten Nachtvögel. Dieses Milieu bietet dem Flaneur die kleinen Beobachtungen und den Stoff für Reflexion und Erzählung. Sir Arthur Conan Doyle legt seinem Detektiv die passenden Worte in den Mund und bestimmt den Stoff, aus dem der Flaneur schöpft: Die Welt ist voller offensichtlicher Dinge, die nie jemand wahrnimmt. Flanieren ist eine Lebensart, richtig betrieben wird sie zur Lebenskunst, fördert Selbstbestimmung und Selbst-Vergewisserung und transformiert sie in Szenen schlichter Alltäglichkeit. Der Flaneur hat sich mit dem Wandel seiner Umgebung, urban und sozial, verändert. Den Flaneur des 20. Jahrhunderts porträtiert Walter Benjamin Berliner Kindheit um 1900 als Fokus sozialer Ereignisse, der versucht, in der Anonymität der Straße aufzugehen, um ungestört und unbemerkt das soziale Geschehen zu beobachten, der sich in der Stadt wie im Wald verirren will: Straßennamen sprechen zu dem Wanderer wie das Knacken trockener Zweige und die Tageszeiten sind für ihn so klar wie ein Bergtal. Flaneur und Wanderer, Stadt und Land, Natur und Kultur.

Die Motivation des Flaneurs spiegelt der Wanderer, der die Natur durchstreift, weil sie in der Urbanität der Städte ein Schattenleben führt. Wie der Flaneur artikuliert der Wanderer seine Gedanken und Gefühle, sucht das Charakteristische wie das Besondere in seiner Umgebung und erzählt davon. Wie Benjamins Flaneur will er in der Umgebung, den Landschaften, durch die er streift, aufgehen, sich verirren, um die Dinge zu finden, die nicht offensichtlich sind. Im 21. Jahrhundert, in einer Zeit, in der sich die Habitate mehr denn je unterscheiden, liegt die Rolle des Wanderers in der Beobachtung der Gegensätze sowie ihrer gegenseitigen Integration, denn keinem öffnen sich diese beiden Umwelten wie dem flanierenden Fußgänger. Der Gegensatz von Stadt und Land! Die vielen Möglichkeiten von Arbeit, Begegnung, Konsum und Kultur locken die Landbevölkerung erneut aus der freien Weite der Landschaft in die Stadt und verführen sie. Die wenigen Möglichkeiten auf dem Land frustrieren und fordern auf, sich auf den Weg ins gelobte Land zu machen. Anonymität im Dschungel der Stadt versus individuelle Sichtbarkeit und soziale Geborgenheit in den Dörfern und Weilern auf dem Land. Macht Stadtluft immer noch frei? Oder inzwischen krank, da ihr der frische Atem der Natur fehlt?

Wer zu Fuß durch eine Stadt geht, spürt den Boden unter seinen Sohlen, die wechselnde Temperatur, Wind und Regen im Gesicht und den Schweiß, der früher oder später über seinen Körper fließt. Ein Spaziergang durch eine Stadt ist eine sinnliche Erfahrung, eine akustische und visuelle Odyssee, selbst ein haptisches Vergnügen, denn man kommt nicht umhin, Gegenstände am Weg zu berühren, auch wenn es manches Mal nicht mehr als eine Tasse Kaffee ist. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Körper. Der Stadtwanderer erlebt eine Kakophonie angenehmer und unangenehmer Sinneseindrücke, die eine unendliche Sinngebung provozieren. Der städtische Wanderer geht nicht nur durch eine Stadt, sie lagert ihre Sedimente in ihm ab, und plötzlich bemerkt er es: Er ist zu einem Teil von ihr geworden. Jede Stadt hat es verdient, gekannt und in ihrem Wesen verstanden zu werden. Der Stadtwanderer muss sich bewusstwerden, was von ihm seine Stadt mitgestaltet hat. Meine Wege, die Gassen, Plätze und Viertel von Cádiz, Etappen, die ich gerne und oft zurücklege. Sie gehören mir allein, denn meine Schritte und Blicke konstruieren eine Umgebung, die subjektiv und unteilbar ist. Sie lässt sich erzählen, aber nur schwer mit der eines anderen Wanderers synchronisieren. Mein Bedürfnis nach unterschiedlichen Formen der Urbanität, nach städtischen Atmosphären, ändert sich ständig. Jeden Tag den gleichen Weg zu gehen, welch eine schreckliche Vorstellung. Eine Langeweile, die die Mannigfaltigkeit von Cádiź verhöhnt. Nie ist Cádiz dieselbe Schönheit. Immer wieder blickt sie mich anders an, sie lächelt, schneidet Grimassen, wird ernst und traurig, manchmal unendlich müde und alt, gebeugt und verlebt, unter schweren Lidern. Die Stadt erzählt, singt ihre Lieder, flüstert ihre Geheimnisse in dunkle Winkel, schweigt plötzlich, und zieht sich hinter schmucklose oder opulent dekorierte Fassaden zurück. Sie versteckt sich hinter Denkmälern und Monumenten, lauert in ihrem Schatten oder kauert schelmisch grinsend hinter in Stein gemeißelten Statuen. Hockt hinter Marien, Kriegern oder Fabelwesen, deren Masken die Stadt sich übers Gesicht gezogen hat. Cádiz fühlt sich immer wieder anders an, je nach Temperatur, nach Wetter und Umgebung. Meine Wahrnehmung ändert sich mit meiner Stimmung, mit meinem Bedürfnis zu schlendern, zügig zu gehen oder zu eilen. Ob ich flaniere oder mich beeile, macht bereits den Unterschied. Mein Rhythmus komponiert die städtische Landschaft, die nicht das Geringste mit der anderer zu tun hat. Mein Gehen bestimmt mein Spüren. In jedem Bezirk liegen andere Atmosphären in der Luft: die Gassen, eng, breit, gerade, gewunden; Bäume oder Autos an ihren Rändern, Kopfsteinpflaster oder Asphalt; die Bebauung aus unterschiedlichen historischen Epochen, menschenleer oder bevölkert, bürgerlich oder multi-kulturell; eine Vielzahl an Geschäften oder Gaststätten, bunte Flecken auf monochromen Hauswänden, unfassbar in ihrer Internationalität. In den Nischen Street Art, einzelne politische, kommerzielle oder absurde Grafitti oder für den Uneingeweihten nicht decodierbare Tags anonymer Sprayer.

Cádiz streckt eine Faust in den Atlantik, ein Brückenkopf, umgeben von einem blauen Meer, dessen Wellen rastlos an seinen Ufern nagen. Eine Perle, der die Muschel verloren ging. Möwen schweben über der Stadt, bewegen träge ihre Flügel und stürzen plötzlich herab aufs Meer. Die Phönizier waren nicht die ersten, aber die ersten, die den strategischen Vorteil der eigenartig geformten Halbinsel für ökonomische Strukturen nutzten. Eine Station auf dem Weg nach Britannien, wo das Zinn für ihre Bronzen seit alters her gefördert wurde. Dann kamen Römer, Mauren und Christen, die alle ihre Spuren hinterließen. Das Museo de Cádiz an der Plaza de Mina präsentiert sie im Erdgeschoss eines dreistöckigen Gebäudes. Die Hinterlassenschaften der Phönizier überraschend vielfältig, die imperialistische Kultur Roms dominiert durch Monumentalität. Das Stadtbild bewahrt nur Fragmente der maurischen Epoche. Zwei besonders seltene und wertvolle Artefakte wurden in der Stadt ausgegraben: zwei Sarkophage aus phönizischer Zeit, ein Mann und eine Frau aus der Oberschicht, die im fünften vorchristlichen Jahrhundert in der Erde von Cádiz begraben wurden. Zwei der See zugewandte Festungen, Bastionen am Strand, historisch bedeutende Kirchen. Nichts in den Gassen, nichts auf den Plätzen. Das Monument auf der Plaza de España, eine intraspanische, politische Manifestation von 1858, stammt aus neuerer Zeit. Sie alle haben diesen Boden betreten, haben hier gelebt, gekämpft, und sind hier gestorben. Nur wenig Sichtbares haben sie hinterlassen. Der neolithische Homo sapiens mit seinen Steinwerkzeugen und seiner Keramik; die phönizischen Seefahrer und Händler, mit ihren farbigen, wallenden Gewändern und kunstvoll frisierten Bärten, deren Schiffe Vorräte und Wasser bunkerten, neue Seeleute anheuerten, vielleicht sogar shanghaiten, um in die nebligen Meere des Nordens vorzustoßen; der von der Lage der Stadt wohlhabend gewordene Römer mit seiner Toga, der seinen Reichtum im Theater zur Schau stellte; der Gladiator, blutend im Sand des Amphitheaters und der Fischer, der seinen Fang in den künstlichen Kanal rundete, den Rom angelegte; die bärtigen Mauren, Söhne des Propheten, mit Turban und krummen Schwert, die ihre Alcazabas auf den römischen Resten errichteten, und verzweifelt um ihr Überleben kämpften, gegen die Wucht der vorrückenden Reconquista; zuletzt die siegreichen Christen, die die Überbleibsel einer überlegenen Kultur übernahmen. Durch die Stadt wandere ich auf den alten Wegen, über die einst Karren rumpelten, durch die jetzt Motorscooter knattern und sich Taxis drängen. Lieferverkehr ist nicht überall möglich, und oft nur, wenn sich die Fußgänger eng an die Hauswände schmiegen. Kopfsteinpflaster, Platten und Asphalt, die modernen Wege von Cádiz. Das Alte geht ins Neue über. Reibungslos. Cádiz ist eine alte Stadt, die Geschichte ausatmet und Fantasien weckt. Durch die Gassen der Altstadt strömt morbider Charme und modischer Schick. Der Bogen zwischen einst und jetzt ist weit gespannt.

Wer durch eine Stadt wandert, da wo sie ihm bekannt ist, oder er sie erst kennenlernen will, geht mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in ihr. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühl und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen. Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt. Cádiz kenne ich nicht, ich ahne die Stadt zwischen all dem Neuen, dass meine Sinne flutet solange mein Blick auf die Stadt noch reine Begeisterung ist. Unsere Beziehung war vom ersten Tag an eine leidenschaftliche. Ich wusste noch nicht, dass es möglich ist, mit engen, verwinkelten Gassen und Steinfassaden, in denen oben dicht gedrängt die Menschen leben, unten Läden, Cafés und Restaurants, die bis spät in die Nacht geöffnet sind, eine emotionale Beziehung einzugehen. Selbst die Steine atmen eine Atmosphäre des Lebendigen aus. In den vielen Jahrhunderten haben sie Geschichte aufgesogen. Ich kann sie einatmen und schmecken. Sie wecken in mir fremde Erinnerungen, von Ereignissen, von denen ich vielleicht nur gelesen habe. In anderen Vierteln und Städten ist meine Aufmerksamkeit von anderen Dingen abgelenkt. Ich erstaune, dass so etwas möglich ist.

Playa de la Caleta, Parque Genovés, Iglesia de Santiago, Plaza San Juan de Dios. Vier Orte, die die letzten hundert Jahre repräsentieren. Eine Stierkampfarena gibt es nicht, daher glaube ich, dass Papa nie in Cádiz war. Manuel de Falla wurde hier geboren, der später nach Granada ging, und sich mit Federico García Lorca anfreundete. Im Parque Genovés krönt seine Büste einen Brunnen. Im kühlen Schatten exotischer Bäume erinnert sich die Stadt an einen berühmten Sohn. Es gibt so viele von ihnen, in El Casco Antiguo: die engen, verwinkelten, fast labyrinthischen Gassen, ein Wegenetz durch die Häuserblocks der Altstadt. Eintausendzweihundert Meter, von der Avenida Campo del Sur bis zur Alameda Apodaca. Eintausendachthundert von der Puerta de Tierra zum Strand Playa de Caleta: Das ist Cádiz! Ein Gewirr, ein Knäuel, ein Gemenge ineinandergreifender Gassen. Keine Straßen, die gibt es nur an der Peripherie. Im neuen Cádiz, der lange Arm, der in die Faust führt, gibt es keine einzige dieser Gassen.

Die Gassen heißen Calles Montañes, Rosario, San Francisco oder Sacramento, vertraut klingende Namen in einer fremden Umgebung. Die Häuser rücken eng an die Gassen, Erdgeschoss, zwei Obergeschosse, ein Erker hier, ein schmaler Balkon dort. Sich über die Gasse hinweg mit seinem gegenüberwohnenden Nachbarn zu unterhalten, stellt keine Schwierigkeit dar. Dazu ist es nicht einmal notwendig, so laut zu sprechen, wie es die Spanier lieben. Denn dann kann man der Unterhaltung eine Häuserzeile weiter folgen. Es gibt diese Gassen auch von anderswo, wo zwischen den Häusern die Wäsche auf der Leine im Wind flattert. Mit ihnen verbindet sich mediterraner Flair. Die Eingänge ins Haus sind oft aufwändig gestaltet. Eine dekorierte Tür oder ein wuchtiges Gitter, mit geschnitzten, abstrakten Motiven, Metallapplikationen oder einer Messingfaust, die keinen Bewohner mehr aufweckt, denn die Eingänge sind mit Schließanlagen gesichert, die an einen Tresor erinnern. Manchmal steht eine Tür auch offen, gestattet den Blick in einen mit glasierten Kacheln farbig gemusterten Portio. Erst dann kommt das Gitter, dahinter ein Garten oder ein geschmücktes Atrium. Durch ein Dachfenster fällt helles Licht auf ein üppiges Arrangement von großen und kleinen Töpfen, in denen blühende Pflanzen, Sträucher und Zierbäume wachsen. Mediterran. Nordafrikanisch. Man darf nicht vergessen, dass die Römer hier waren; und die Mauren. Viele der Fassaden sind verblichen, warten auf frischen Putz oder einen neuen Anstrich. Dazwischen immer wieder ein historisches Gebäude, eine Kirche, ein Palast, von Behörden requiriert. Ein Patrizierhaus, das sich noch immer im Glanz vergangener Tage sonnt, dient als Museum oder Gedenkstätte. In den Erdgeschossen haben Händler und Kaufleute, Banken und Versicherungen, Arztpraxen und alle möglichen anderen Dienstleister kleine Geschäfte hinter modernisierten Fronten mit großen Fenstern eröffnet: Bekleidung für Alle und Jeden, Werkstätten, Frisöre, die auch Piercings und Tattoos anbieten, Spielzeug und Süßes, Plastik und schreiend bunt. Filialen, gleiche mehrere, der großen spanischen Supermarktketten. Ich frage mich, ob es auch so viele Besitzer wie Namen gibt. Ob auch der spanische Lebensmittelsektor weitgehend monopolisiert ist. Aber die Supermercados sind kein wirklicher Konkurrent für den Mercado Central an der Plaza de las Flores. In den Supermärkten wird nur eingekauft. In den Arkaden des großen Markts von Cádiz, die die große Halle mit ihren Fisch- und Gemüseständen umgeben, präsentiert sich spanische Lebensart. Noch gibt es ihn, den kleinen Laden, der alles hat, was man alltäglich braucht; nicht jeden Artikel dutzendfach, sodass die Wahl zur Qual wird, und man dann doch das Produkt nimmt, dass man schon immer gekauft hat. Mit persönlichem Kontakt, Zuwendung und nachbarschaftlicher Atmosphäre treten sie ihrer Verdrängung beharrlich entgegen. Ein paar Häuser weiter, der Bazar, in dem der asiatische Betreiber ein Sammelsurium von Waren anbietet, jedes ein Original, trotz der feilgebotenen Massenware. Jeden Tag, zuverlässig, auch sonntags, versorgt der Kiosk an der Ecke die zu spät Gekommenen mit Getränken, Zeitungen und Essbarem, all den Kleinigkeiten, die man schnell noch braucht, oder vergessen hat, wenn alle anderen Läden geschlossen sind. Überall dazwischen oder mittendrin: eine Bar, eine Cafeteria, ein Restaurant. Meistens unter einem Dach. Die Vielfalt der Namen der Etablissements, die an Geographisches erinnern, an Personen aus Geschichte und Märchen. Geheimnisvolle Chiffren, die von Dingen erzählen und Fantasien wecken, sodass es scheint, sie haben etwas mit uns selbst zu tun, mit Ereignissen, an die wir uns kaum erinnern. Zum nächsten Café con leche, zur nächsten Tapa oder zur nächsten Mahlzeit, ist es nie sehr weit. Eine Stadt wie Cádiz kennt tagsüber keine Schließzeiten mehr. Siesta halten nur noch die kleinen Läden, die selbständigen Handwerker, Versicherungsagenten oder Immobilienmakler. Das Land muss verwaltet werden, Europa bestimmt die Regeln des Spiels, und alle Dienstleister ziehen nach. Die meisten Bars und Taperíen sind durchgehend geöffnet, die Restaurants mittags und abends mehrere Stunden. In Andalusien isst man gerne gut und reichlich; und spät. Übergewichtige Kinder, Männer und Frauen gehören in den Dörfern und Städten zum normalen Straßenbild. Die von Ernährungsberatern viel beschworene mediterrane Küche ist entweder in Niedergang oder schützt nicht davor, Fett anzusetzen. Die Gassen der Altstadt sind kaum breiter, als ein Auto Platz braucht. Die PKW fahren Runden. Wenden ausgeschlossen. Es gibt fast keinen motorisierten Verkehr in der Altstadt von Cádiz. Zweiräder, gelegentlich zwängt sich ein Taxi im Schritttempo vorbei, die Lieferwagen der Firmen, Läden und der Gastronomie. Private Wagen sind in der Minderheit. Parkende Auto zu finden benötigt eine Schnitzeljagd. Die vielen großen und kleinen Plazas der Stadt sind Inseln der Ruhe im mitunter hektischen Gewirr der Gassen. Rechteckig, fast rund, oval oder lang gestreckt, als habe man eine der Gassen eben in die Breite gezogen. Auf jede Plaza münden mehrere Gassen, enden dort, oder setzen ihren Lauf gegenüber fort, nicht immer geradlinig, oft um Meter versetzt. Die ausgedehnte Plaza San Juan de Dios, mit dem prächtigen klassizistischen Rathaus, grenzt an den Hafen, wo die Kreuzfahrer ihre Route durch das Barrio del Pópulo beginnen, das ehemalige maurische Gadir, wo die antiken Stadttore zur Kathedrale und den Ruinen eines römischen Theaters führen. Die betriebsame Plaza de las Flores, um den Mercado Central, wo täglich Fisch frisch aus dem Meer angeboten wird. Eine Menagerie all dessen, was das Meer zu bieten hat. Ich bin überrascht, welche Vielfalt der Arten und welcher Reichtum auf den Marktständen liegt. Alles Aas; Leichenteile. Verletzte Leiber mit gebrochenem Blick, gehäutet, zerteilt, bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt. Ganze Thunfische, oder nur ihr Kopf. Der Torso eines Schwertfischs, hilflos. Trotzig zückt er seine Waffe zur Decke. Unter den umlaufenden Arkaden des klassizistisches Gebäudes bieten Bars aus vielen Regionen Spaniens Köstlichkeiten an Stehtischen an. Sein Inneres umgeben die Händler mit ihren Obst- und Gemüseständen, unter die sich ein Smoothie-Stand gemischt hat. Die Plaza de las Flores selbst ist überladen mit Souvernirshops. Buden bieten den umherschlendernden Touristen allem möglichen Krimskrams an. Durchs Gedränge eilende Bewohner. An den Rändern die besetzten Tische der Gastronomie.  Die Atmosphäre einer spanischen Plaza erträgt das alles. Ein Schild mit dem Namen der Plaza suche ich vergebens. Doch sie hat einen Blumenstand, was ihr Ehre macht, und mich versöhnt. Anders die Plazas de San Antonio, de Mina und Mentidero, die so weit im Westen der Stadt liegen, dass sich nur wenige Touristen hierher verirren. Auf die große Plaza de San Antonio, mit der 1858 zuletzt restaurierten Iglesia de San Antonio und ihren beiden Türmen, mündet die Calle Ancha, eine Fußgängerzone mit Geschäften für jeden Bedarf. Der Strom der Konsumenten kommt den ganzen Tag nicht zur Ruhe. El Casco Antiguo besteht nicht allein aus Gassen, in denen die Zeit scheinbar still steht. Dem Zentrum der Altstadt fehlt zwar der Platz für die Aveniden und Paseos anderer Städte, mit ihrem Konsumangebot, ihrem Verkehr und Fußgängerstrom auf beiden Seiten. Doch Cádiz Gassen sind geduldig und flexibel. Ein paar von ihnen haben sich zu Konsummeilen gewandelt. Auch die Calle Compañia, von der Plaza de la Catedral zur Plaza de las Flores, dem merkantilen Herzen der Altstadt, gehört dazu. Sie hat ihr Angebot den Touristen gewidmet, die nach der Besichtigung der Kathedrale zur Markthalle bummeln. Die Calle Columela dagegen, von der Calle San Francisco zur Plaza de las Flores, bietet alles für den Bedarf des modebewussten Spaniers; exklusiv und teuer. Nimmt man die Calle San Francisco noch dazu, dann ist damit das Zentrum des Konsums auch schon abgeschritten. Der von den glänzenden und glitzernden Waren ermüdete Stadtwanderer wendet sich ab, biegt um zwei Ecken, und erreicht die nächste ruhige Plaza oder eine schattige Gasse mit einer Bar, in der Männer lamentieren. Ein Wirt zapft Bier, dem die Gäste zusprechen, spendiert eine Schale Oliven dazu und wärmt Tapas auf. Gekonnt schneidet er dünne Scheiben vom getrockneten Oberschenkel des Schweins, der in einen Schraubstock gespannt ist. Noch ein paar hundert Meter weiter, und der Wanderer findet sich in einem Park oder an einem der Strände wieder.

Und die Menschen der Altstadt? Ich glaube nicht, dass es in Cádiz andere Menschen gibt als in jeder anderen Stadt. Die Bewohner sind moderne Europäer, auf den ersten Blick ununterscheidbar von denen anderer Städte. Kleidung, Mode, Makeup, Frisuren und Haarschnitt, Bärte, Piercings und Tattoos, Kappen und Hüte. Die gleichen Autos, die gleichen Auslagen in den Schaufenstern, vor denen die Passanten stehen bleiben, das gleiche Angebot in den Supermärkten. Das quirlige Wuseln in den Straßen. Auch die Spatzen und Tauben sind überall, mit einer Selbstverständlichkeit, als gehöre ihnen der Planet. Ignoriert von den Menschen, die sich längst an das Zusammenleben gewöhnt haben. Männer und Frauen mit Hunden, besonders kleine sind beliebt. Angeleint führen ihre Besitzer sie durch die Gassen, bewaffnet mit Plastiktüte und Desinfektionsspray, um keine Spuren zu hinterlassen. Nur Regenkleidung habe ich nicht gesehen. All das nur auf den ersten Blick. All das bildet einen ungewöhnlichen Kontrast zu dem morbiden Charme der Altstadt, der die Stadt so liebenswert macht, diese Mischung von Geschichte und Moderne, dieses reibungslose Nebeneinander kultureller Diversität. Sicher, all das gibt es auch in anderen europäischen Städten, aber Cádiz ist eben Cádiz. Wie auch in anderen Städten in Andalusien, in Sevilla, Ronda oder Granada und Almería, in denen die Menschen mitten in ihrer Geschichte leben, ist es ihre Modernität, die den Punkt setzt, und das Lebensgefühl so einzigartig macht. Alles ist nur ein bisschen anders, aber dieses bisschen ist entscheidend. Der Unterschied sitzt im Detail, in den Besonderheiten des Stils, des Verhaltens, des öffentlichen Lebens auf den Plätzen und in den Gassen. Gekleidet wird sich bunt, wenn nicht gerade Alltag ist. Besonders die Frauen, jeden Alters, und da geht farblich alles, was meinen Augen und Farbempfinden schon mal einiges abfordert. Die Illustrationen eines Modekatalogs oder der Look von Schaufensterpuppen finden sich in der Realität der Gassen in gelebter, bunter Mischung wieder. Modischer Schick und arrangierte Attraktivität gehen Hand in Hand mit unauffällig individualistischer Kleiderordnung. Getragen wird, was gefällt. Expressiv und ungebändigt. Neben den Paradiesvögeln wirken die meisten Männer unscheinbar und blass, aber elegant und teuer gekleidet. Gepflegt, wie aus dem Ei gepellt. Darauf legt man Wert. Meistens jedenfalls, denn es gibt auch die schlecht gekleideten, denen ihre soziale Schicht auf den Leib geschneidert ist. Die Frauen bauchfrei, tätowiert, Kalorienbomben mit ungeniert präsentierten Fettrollen und Polstern, in engste Shirts und Pants gezwängt, mit Slogans auf der Brust, die besser geheim gehalten würden. Wehe dem, der sie wörtlich nimmt. Die Männer in Schlabberlook, mit ausgeleiertem T-Shirt über Bierbauch oder grell bedrucktem Hemd. Dazu die Hose bis ans Knie, strumpflose Füße in Sandalen. Basecap und manchmal auch flächendeckend tätowiert. Beeindruckend das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis sich so zu präsentieren. Dazwischen Jugendliche korrekt in ihrer Schuluniform. Weißes Hemd oder Bluse, die Mädchen in rotkarierten Röcken, die Jungen in blauen Hosen. Und alles das geht zusammen. Soziale Grenzen scheint es nicht zu geben. Vorurteilsfrei geht man miteinander um. Auch Farbige und Behinderte gehören dazu. Bei dem Bettler an der Ecke bleibt man kurz stehen, man kennt sich. Ein Small Talk, eine Münze, dann setzt man seinen Weg fort. Ausgegrenzt wird niemand. Der Alltag endet meist am späten Nachmittag. Die Siesta ist zu Ende, es wird kühler. Die einen kehren noch für ein paar Stunden an ihre Arbeit zurück, die kleinen Läden und Restaurants öffnen wieder, während für siestalose Behörden, Banken und viele Dienstleister der Feierabend beginnt. Und wer schon frei hat, trifft sich irgendwo mit irgendwem, auf einem der von vielen kleinen Cafés, Bars und Restaurants umgebenen Plätzen, oft mit einem Park in der Mitte, wo Kinder spielen und umhertollen. Die freie Zeit, in der man sich trifft, draußen vor der Tür. Plötzlich sind die Plätze vor den Bars und Restaurants ein knappes Gut. Selbstverständlich sind die Kinder mit dabei. Sie sorgen für Unruhe zwischen Tischen und Stühlen, laufen kreischend hintereinander her, spielen fangen oder quengeln, bis sie ihr Eis bekommen. Nicht frustriert oder ärgerlich, sondern weil es Spaß macht, ausgelassen zu sein. Es geht lautstark zu, auf den Plätzen und zwischen den Tischen, oft so laut, dass ich mich wundere, dass jemand noch etwas versteht. Doch die Spanier sind speziell. Selbst die Kleinsten liegen lärmgebadet und entspannt schlafend im Kinderwagen. Die älteren Jungen spielen mit den kleineren Ball, die pubertierenden Mädchen sitzen zusammen und tratschen, gestylt wie ihre Mütter. Die anderen, deren Arbeitstag später endet, kommen dazu, ganze Familien, mit Kind und Kegel. Man trifft sich als Nachbarschaft. Niemand bleibt zu Hause und niemand ist allein. Gegessen wird nach zwanzig Uhr. Frauen und Männer, Jugendliche und Kinder, jeden Alters spielen ihre Rollen und nehmen ihre Position ein. Am Tresen vor geeisten Zapfanlagen und Tapasauslagen. Das mit Flaschen gefüllte, gelb beleuchtete Regal der Spirituosen vor Augen. Die Tische vor der Türe machen die Gassen noch enger: Café solo, Café con leche, eine Caña gezapftes Bier; eine Copa de Vino. Gegessen wird wenig, vielleicht eine Kleinigkeit, eine Tapa, ein Happen Fisch oder Fleisch, Brot dazu, Gemüse so gut wie nie. An den Tischen wird laut palavert, aus der Bar schallt Musik auf die Gasse. Laut muss sie sein, und südliches Lebensgefühl vermitteln. Nur manchmal das Flackern eines stumm gestellten Fernsehgeräts. Rentnerbrigaden tummeln sich paarweise durch die Stadt. Elegant gekleidet, im Feiertagslook, und auch der Stock fehlt nicht. Sie sind früh unterwegs, denn sie brauchen für alles etwas länger, und wissen, dass bald der Andrang kommt. Jetzt herrscht in den Küchen Hochbetrieb. Der Geräuschpegel erreicht den letzten Höhepunkt des Tages. Die Frauen beherrschen den Lärm besonders gut. Sie schwimmen auf den Wellen der Akustik. Sie schnattern und quaken, quietschen und trällern, lachen und kichern, schreien und poltern, grummeln und murmeln. Aber auch die Männer beherrschen ihr Metier, wenn mir auch ihr Bass nicht so tief ins Ohr schneidet. Erst lange nach Mitternacht erstirbt die Kakophonie der Stimmen in den Gassen.

 Die Playa de Caleta öffnet sich als Halbkreis nach Westen. Zwei Festungen rahmen sie zu beiden Seiten ein, bilden eine künstliche Bucht, beschützten einst die Stadt vor feindlichen Manövern, und heute die Badenden vor zu hohen Wellen: das Castillo de Santa Catalina im Nordosten; ein Museum für lokale bildende Kunst. Das Castillo de San Sebastian im Südwesten beherbergt den Leuchtturm. Zwischen den beiden Festungen versinkt jeden Abend die Sonne spektakulär im Meer und taucht den westlichen Horizont in einen Farbverlauf von orangen, roten und violetten Streifen. La Caleta, ein kleiner sandiger Bogen, ist der Stadtstrand von Cádiz und dementsprechend frequentiert. Das Meer ist flach und warm, die Wellen enden müde im Sand. Bei Ebbe liegen die Fischerboote auf dem Trockenen, ist Flut schaukeln sie unbenutzt in der sanften Dünung. Es ist einfach, sich vorzustellen, dass sie es sind, die die Flut der Fische fangen, die täglich in der Markthalle stranden. Das weiße Balneario de la Palma, das den Strand dominiert, schmiegt sich als Halbrund wie ein auf Stützen ruhendes Raumschiff in den Sand. Es sind schon einige Kilometer, vom botanischen Garten des Parque Genovés bis an die Kathedrale, weiter über die Playa de Santa Maria del Mar, und noch viel weiter über die Playa de la Victoria, einen kilometerlangen, gelben Sandstrand, der parallel der Avenida de Andalucía verläuft und weit unten im Süden in einem Feuchtbiotop ehemaliger Salinen endet. Eine Promenade umrundet das ganze westliche, dem Atlantik zugewandte Ufer von Cádiz, erreicht den Hafen und die Plaza de España mit dem Monument der Verfassung, kommt schließlich zurück nach La Caleta, ins Barrio de la Viña. Breite, für den Autoverkehr angelegte Boulevards begleiten die Strandpromenade bis an die Puerta de Tierra, wo sie sich in den schmaleren Straßen der Neustadt verlieren. Wer will, der kann noch ein paar Kilometer weiter am Strand entlang wandern, durch den Sand und die flachen Wellen am Spülsaum, mitunter heftigem Wind entgegen, der den feinen Sand aufwirbelt, der auf der schweißfeuchten Haut des Wanderers klebt, oder ihm zwischen den Zähnen knirscht.

Cádiz ist eine doppelte Stadt, nicht wirklich geteilt, doch die beiden Städte sind deutlich voneinander geschieden. An der Puerta de Tierra, dem sorgfältig restaurierten Teil der alten Stadtmauer, der das alte Cádiz, das Centro Historico, vom neuen, modernen Cádiz trennt. Das ist die historische Grenze. Die eindrucksvolle Mauer bildet einen Riegel, der vom Atlantik auf der einen Seite, zum Hafen auf der anderen Seite reicht. Höchstens fünfhundert Meter sind die beiden Ufer voneinander entfernt. Eine deutliche Grenze, ohne Schlagbaum und Kontrolle. Südlich der Puerta de Tierra führt die von Hochhäusern, Verwaltungsgebäuden und Geschäften gesäumte Avenida de Andalucía schnurgerade durch Neu-Cádiz und wieder hinaus. Rechts und links biegen gerade, breite Straßen in gesichtslose Wohngebiete, denen der morbide Charme der Altstadt fehlt. Das ist die ästhetische Grenze, visuell, als Atmosphäre spürbar, wenn man durch die Straßen bummelt. Die Faust und ihr Arm, am Handgelenk das breite Armband der Puerta de Tierra.

Meine letzten Stunden in Cádiz. Drei Wochen habe ich mich in der Altstadt herumgetrieben, habe viel gesehen und viel erlebt. Die Gassen der Stadt sind mir vertraut geworden. Noch ein einziger Weg ist übriggeblieben, ein allerletzter, den ich mir bis zuletzt aufgehoben habe. Am letzten Abend gehe ich durch die Puerta de la Caleta und über die Avenida Duque de Nájera zum Castillo de San Sebastián. Der mehrere Hundert Meter lange Damm ist nur zwei Meter breit, ein Gefühl, dem Meer ausgeliefert zu sein. Aber die See bleibt ruhig. Von beiden Seiten rollt sie das Wasser an die Wände des Wegs aus Stein. Seichte Fontänen sprühen über den Damm. Sie lassen mich ungehindert passieren. Hinter der Festung versinkt die Sonne im Meer. Der Horizont gefällt sich in gelben und roten Farben und das Meer wird schwarz. Es wirkt dickflüssig, ein zähes Kolloid. Der Wind kommt mir entgegen, weht kräftig, sodass mir Hemd und Haare hinterherwehen. Ich stehe ein letztes Mal im Wind. Ein Abschied nach meinem Geschmack.

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