Donnerstag, 30. April 2020

Sierra de Almijara


The road goes ever on and on
Down from the door where it began
But far ahead the road has gone
And I must follow if I can

John Ronald Reuel Tolkien

Ich weiß, dass ich nicht der Einzige bin, der die besten Gedanken beim Gehen hat, und dass unterwegs die Freiheit grenzenlos werden kann. Dann, wenn Alltag und Routine, Kreativität tötende Verpflichtungen und gegenseitige Erwartungen, die kleinlichen Zumutungen und Bedenklichkeiten, die Unsicherheiten und all das, was nicht wirklich in mein Leben gehört, zurückgelassen werden. Mit allem muss ich mich auseinandersetzen, damit die Welt um mich funktioniert. Doch ich weiß auch, dass die individuelle Lebenswelt immer wieder für eine Weile verschwinden und in der Bedeutungslosigkeit versinken muss. Bevor diese Freiheit gewonnen ist, muss man sie erwerben, muss man lernen, frei zu sein, muss man sich bemühen, herausfordern lassen und bewähren. Das zumindest hat die Freiheit mit dem Alltag gemeinsam, wenn auch das Ergebnis völlig verschieden ist. Eine Schnittstelle zwischen alltäglicher Lebenswelt und individueller Freiheit sind lange Wanderungen und Fußreisen; gelegentlich ermöglicht das auch ein Spaziergang, wenn er zum richtigen Moment passiert. Freiheit, das ist wichtig, lässt sich nur realisieren, wenn auch alle anderen frei sind. Es reicht nicht aus, die Regierungsform zu wechseln, die Geisteshaltung der Menschen muss sich ändern. Ein hoher Anspruch, ich weiß das. Ein Dilemma.

Mittwoch, 29. April 2020

Las Alpujarras


Das «panoramische Gefühl», mitten in einer Landschaft zu stehen.
Die Welt ringsum liegt mir zu Füßen. Ich bin ihr Mittelpunkt.
Ein Gefühl, so unverfügbar und so flüchtig wie ein Moment
des Glücks, kaum beschreibbar: das Gefühl, frei zu sein
.
Ulrich Grober

Ich bin erst eine Woche in Spanien, doch es fühlt sich nach Wochen an. Vielleicht liegt es daran, dass die Zeit auf dem Land langsamer verstreicht als in der Stadt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich frei bin, weil alle Zwänge zu Hause geblieben sind. Zeit spielt keine Rolle. Ich habe lange geübt, bis es soweit war, bis mein Zeitgefühl und mein Körpergefühl nicht mehr gegeneinander arbeiten. Es ist eine merkwürdige Erfahrung, festzustellen, was die Norm der Uhr uns täglich antut. Günter Eich hat das in seinem Hörspiel Das Jahr Lazertis sehr schön formuliert. Dort vertritt er die Meinung, dass Zeit die Farbe einer wilden Rose und das Schillern einer Schlangenhaut ist. Welch ein Privileg ist es doch, Pilger, Reisender oder gleich ein Vagabund zu sein. Zu Fuß gehen: Ein unvergleichliches Erlebnis. Wer sich die Bedeutung oder den Geschmack des Flanierens auf der Zunge zergehen lässt, der weiß, wovon ich rede.

Dienstag, 28. April 2020

Cabo de Gata


der kuss der freiheit
andere welten verspricht
der blick durchs fenster

Drei Regentage in Orgíva sind genug. Ich habe mich von der Enge des österlichen Treibens in Granada erholt. Als ich in Orgíva eintraf, ahnte ich nicht einmal, welche Erinnerungen der Ort ans Licht ziehen würde. In einem Zimmer, gerade einmal groß genug für ein Bett, in einem Städtchen ohne jede Spur touristischen Rummels. Ein paar Tage, ohne mich durch Scharen von Besuchern aus aller Welt zu schieben. Das habe ich gewollt.

Montag, 27. April 2020

Cala Higuera


Da draußen aber gibt es unerforschte Wunder –
Wunder, die darauf warten, daß der rechte Mann
alles aufs Spiel setzt, sie zu entdecken.

T. Coraghessan Boyle

Ich wollte nach Isleta del Moro gehen, aber zwanzig Kilometer sind mir heute zu weit. Die Wanderung von gestern sitzt noch in meinen Muskeln. Über Land nach Pozo las Fraillas zu gehen, reizt mich nicht. Ich will etwas mit Strand, etwas Kleines eher Müheloses, wenn es solche Wanderungen gibt. Ein Spaziergang vielleicht. Nachdem mir meine Wanderung zur Playa de Genovéses und auf den Morrón de los Genoveses gefallen hat, wähle ich aufs Geradewohl eine kleine Bucht nördlich von San José aus: die Cala Higuera. Ihr Name erinnert mich an den Fluss, durch den ich vor ein paar Wochen gewandert bin.

Sonntag, 26. April 2020

Museo del Bandolero


Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns,
daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens
, [...] Dauern
ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig
nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild
seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige.

Rainer Maria Rilke

Ronda ist eine besondere andalusische Stadt mit einer äußerst bemerkenswerten Brücke, El Puenta Nuevo, die den Ort in zwei Städte trennt: in ein altes, historisches Ronda der dekadenten Architektur, der verwinkelten Gassen und Plätze sowie in das merkantile, das neue, mit moderner Infrastruktur. Ein Ronda, in dem ich für einen Moment aus der Zeit gefallen bin, ein anderes, das in meine Zeit gehört. Ich kam vom Cabo de Gata mit dem Bus hierher, für eine Nacht, auf dem Weg in die Serranía de Ronda, um zu wandern, eine Berglandschaft, die zur Sierra de Grazalema und Sierra de las Nieves gehört, und die im Süden an den Naturpark Los Alcornocales grenzt. Die malerischen, fremd klingenden Namen faszinierten mich aufs Neue und lockten mich zurück in die andalusischen Berge, nordwestlich der Alpujarras. Doch Ronda hielt mich ein paar Tage lang gefangen.
Meine Zeit in Ronda war fast vorbei. Es bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Abfahrt nach Grazalema. Ich hatte die Wohnung verlassen, den Schlüssel in den Briefkasten geworfen und den Rucksack auf den Schultern. Ich ging die Straße hinab zur Stadtmauer und hinauf zur Brücke über die Tajo-Schlucht. Noch einen letzten Blick in die Tiefe, schwindelerregend und weit in die Landschaft, wollte ich mitnehmen. Abschied! Über die Brücke und hinein nach El Mercadillo, zur Estación de Autobuses in die Neustadt. Auch an diesem Morgen drängte ich mich zwischen die zahlreichen Besucher an die Brüstung der Sehenswürdigkeit, mir schmerzlich bewusst, dass die schönsten Orte Welt zu einem Massenerlebnis geworden sind. Das unbestimmte Gefühl, etwas vergessen zu haben, ließ mich zögern. Vielleicht schlich sich in diesem Augenblick etwas in meine Wahrnehmung, bewusst kaum zu fassen, dazu war die Berührung viel zu sanft. Ich dachte an das Museo del Bandolero, und bedauerte plötzlich, es ausgelassen zu haben.

Samstag, 25. April 2020

Arroyo de Cañuelo


Es wird einem selten das Schlimmste zugemutet,
aber es kommt doch vor. Und keine Lokalkenntnis,
keine Reiseerfahrung reichen aus, dich im Voraus
wissen zu lassen, wo es vorkommen wird und wo nicht.

Theodor Fontane

Wer in ein gewisses Alter gekommen ist, der weiß, dass er kein anderer sein kann als der, der er schon immer gewesen ist. Die Kunst des Lebens besteht darin, sein Potenzial so gut wie möglich zu entfalten, das Vorhandene zu verfeinern, zu vervielfältigen, zu variieren, zu optimieren, Möglichkeiten zu nutzen oder zu suchen, Erfahrungen zu machen. Das bedeutet persönliche Entwicklung: physisch, psychisch, ethisch. Das neutestamentliche Gleichnis von einem Kaufmann, der jedem seiner drei Söhne eine Münze namens Talent gab, wie herrlich doppeldeutig, gefiele mir besser, wenn er alle mit einem dieser besonderen Talente bedacht hätte. Nur seine drei Söhne. Unethisch für die christliche Lehre, doch ich will das Gleichnis nicht zu wörtlich nehmen. Eine Landkarte wäre gut, ein Passierschein für die Träume, mit der man im Gelände untertauchen kann, jedenfalls soweit das überhaupt möglich ist. Kleine Angst und große Angst. Die kleine Angst ist gut. Sie ist ein Freund, der sagt: Weitermachen!

Freitag, 24. April 2020

El Palomar de la Breña


Wenn Sie eine Stelle finden, wo Wälder und Dunst die Gipfel umhüllen
und so die Illusion von Tiefe hervorrufen, die jeder Reise Bedeutung verleiht
dann lüften Sie den Hut und gedenken Sie derer, die vor Ihnen
da waren und Ihnen den Weg gebahnt haben.

Wade Davies

Viele Menschen vernachlässigen die Erfahrungen, die sich nicht mit ihrer Selbstwahrnehmung decken. Wie anders wäre unsere Wahrnehmung der Realität, wenn wir die alltäglichen Erfahrungen verwerfen, die nicht mit unseren Träumen übereinstimmen?