Sonntag, 26. April 2020

Museo del Bandolero


Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns,
daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens
, [...] Dauern
ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig
nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild
seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige.

Rainer Maria Rilke

Ronda ist eine besondere andalusische Stadt mit einer äußerst bemerkenswerten Brücke, El Puenta Nuevo, die den Ort in zwei Städte trennt: in ein altes, historisches Ronda der dekadenten Architektur, der verwinkelten Gassen und Plätze sowie in das merkantile, das neue, mit moderner Infrastruktur. Ein Ronda, in dem ich für einen Moment aus der Zeit gefallen bin, ein anderes, das in meine Zeit gehört. Ich kam vom Cabo de Gata mit dem Bus hierher, für eine Nacht, auf dem Weg in die Serranía de Ronda, um zu wandern, eine Berglandschaft, die zur Sierra de Grazalema und Sierra de las Nieves gehört, und die im Süden an den Naturpark Los Alcornocales grenzt. Die malerischen, fremd klingenden Namen faszinierten mich aufs Neue und lockten mich zurück in die andalusischen Berge, nordwestlich der Alpujarras. Doch Ronda hielt mich ein paar Tage lang gefangen.
Meine Zeit in Ronda war fast vorbei. Es bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Abfahrt nach Grazalema. Ich hatte die Wohnung verlassen, den Schlüssel in den Briefkasten geworfen und den Rucksack auf den Schultern. Ich ging die Straße hinab zur Stadtmauer und hinauf zur Brücke über die Tajo-Schlucht. Noch einen letzten Blick in die Tiefe, schwindelerregend und weit in die Landschaft, wollte ich mitnehmen. Abschied! Über die Brücke und hinein nach El Mercadillo, zur Estación de Autobuses in die Neustadt. Auch an diesem Morgen drängte ich mich zwischen die zahlreichen Besucher an die Brüstung der Sehenswürdigkeit, mir schmerzlich bewusst, dass die schönsten Orte Welt zu einem Massenerlebnis geworden sind. Das unbestimmte Gefühl, etwas vergessen zu haben, ließ mich zögern. Vielleicht schlich sich in diesem Augenblick etwas in meine Wahrnehmung, bewusst kaum zu fassen, dazu war die Berührung viel zu sanft. Ich dachte an das Museo del Bandolero, und bedauerte plötzlich, es ausgelassen zu haben.

Samstag, 25. April 2020

Arroyo de Cañuelo


Es wird einem selten das Schlimmste zugemutet,
aber es kommt doch vor. Und keine Lokalkenntnis,
keine Reiseerfahrung reichen aus, dich im Voraus
wissen zu lassen, wo es vorkommen wird und wo nicht.

Theodor Fontane

Wer in ein gewisses Alter gekommen ist, der weiß, dass er kein anderer sein kann als der, der er schon immer gewesen ist. Die Kunst des Lebens besteht darin, sein Potenzial so gut wie möglich zu entfalten, das Vorhandene zu verfeinern, zu vervielfältigen, zu variieren, zu optimieren, Möglichkeiten zu nutzen oder zu suchen, Erfahrungen zu machen. Das bedeutet persönliche Entwicklung: physisch, psychisch, ethisch. Das neutestamentliche Gleichnis von einem Kaufmann, der jedem seiner drei Söhne eine Münze namens Talent gab, wie herrlich doppeldeutig, gefiele mir besser, wenn er alle mit einem dieser besonderen Talente bedacht hätte. Nur seine drei Söhne. Unethisch für die christliche Lehre, doch ich will das Gleichnis nicht zu wörtlich nehmen. Eine Landkarte wäre gut, ein Passierschein für die Träume, mit der man im Gelände untertauchen kann, jedenfalls soweit das überhaupt möglich ist. Kleine Angst und große Angst. Die kleine Angst ist gut. Sie ist ein Freund, der sagt: Weitermachen!

Freitag, 24. April 2020

El Palomar de la Breña


Wenn Sie eine Stelle finden, wo Wälder und Dunst die Gipfel umhüllen
und so die Illusion von Tiefe hervorrufen, die jeder Reise Bedeutung verleiht
dann lüften Sie den Hut und gedenken Sie derer, die vor Ihnen
da waren und Ihnen den Weg gebahnt haben.

Wade Davies

Viele Menschen vernachlässigen die Erfahrungen, die sich nicht mit ihrer Selbstwahrnehmung decken. Wie anders wäre unsere Wahrnehmung der Realität, wenn wir die alltäglichen Erfahrungen verwerfen, die nicht mit unseren Träumen übereinstimmen?

Donnerstag, 23. April 2020

El Casco Antiguo


nach der wanderung
tauche ich meine füße
tief ins abendrot

Cádiz ist die älteste Stadt Europas, im äußersten Südwesten des europäischen Kontinents. Und noch immer ist sie die Westlichste, und zugleich die Südlichste. Von allen Seiten meergeküsst. Ein schmaler Streifen dem Atlantik abgetrotzte Erde verbindet die Stadt mit dem Land. Cádiz ist meine letzte Wanderung. Dann ist es vorbei. Die Zeit zerfließt, und Dalis weiche Uhren erscheinen plötzlich real. Ein weißes Kaninchen kreuzt meinen Weg und ein Siebenschläfer denkt über verändertes Bewusstsein nach: zu atmen, wenn ich schlafe, ist dasselbe wie zu behaupten, ich schlafe, wenn ich atme. Gleiches kann man auch vom Gehen sagen. Grace Slick, die Frontfrau von Jefferson Airplane, inspiriert diese Alice-Replik auf dem legendären Woodstock-Festival 1969 zu einer Hymne, die sie der Hippie-Gemeinschaft entgegenruft: when logic and proportion have fallen sloppy dead / remember what the dormouse said / feed your head, feed your head. Wenn ich will, kann ich die alltägliche Realität verwerfen, wenn sie nicht zu meinen Träumen passt.

Mittwoch, 22. April 2020

Ausklang


wanderlust! rentlessly craving
wanderlust peel off the layers
until you get to the core

[...]
rentlessly restless restless rentlessly
Björk, MoMa, 2015

Das Besondere an meinen Reiseerzählungen besteht darin, dass sie selbstreferenziell sind. Das ist auch nicht anders möglich, denn Wandern, richtig betrieben, wird zu einer sehr persönlichen Angelegenheit. Grundsätzlich gibt es nur zwei Arten zu wandern: allein oder in Gemeinschaft. Mit dem Herzen oder dem Verstand. Allein zu wandern ist beschaulich und meditativ, gemeinsam zu wandern sozial und kommunikativ. Beides gleichzeitig schwer möglich, es sei denn, man sondert sich ab. Doch dann bricht man besser gleich allein auf. Es gilt, eine Wahl zu treffen. Meine Erinnerungen, Notizen und theoretischen Randbemerkungen über das Gehen handeln von mir: von meinem Empfinden, meinen Gefühlen und meinen Gedanken. Es gelingt mir nicht, das Wandern von meiner psychischen Befindlichkeit zu trennen. Es geht auch nicht darum, jemandem irgendwelche Ratschläge zu geben, dafür zu sorgen, dass er ausgetretenen Wegen folgen kann. Mir ist es wichtig, anzuregen, eine ganz bestimmte Haltung und Sichtweise zu fördern, die in der Überzeugung gipfelt: Die Zeit zur Wiederentdeckung der Landschaft ist gekommen. Gehen ist die natürlichste Fortbewegung des Menschen. Gehen entspricht seiner eigentlichen Natur, denn zu gehen liegt dem Homo sapiens, der ein Homo viator ist, im Blut. Wir sind Bewegungswesen. Es liegt an der modernen Entfremdung des Menschen von der Natur, dass er das Gehen aufgegeben hat. Nun glaubt er, nicht mehr gehen zu müssen, stelle einen Fortschritt dar. Der zunehmende Niedergang des Gehens wirkt sich so katastrophal aus, wie die künstliche Trennung von Körper und Psyche oder die Entfremdung des Menschen von der Natur. Die Hegemonie der Kultur über die Natur, des Körpers über das leibliche Spüren, hat ihren Zenit erreicht und ist nicht länger zukunftsfähig. Diese Perspektive ist mehr als eine Idealvorstellung, die zu einem guten Leitmotiv taugt. Mir scheint es wichtig, darauf hinzuweisen, dass besonders absichtsloses Gehen, Flanieren oder Spazierengehen, eine einzigartige Wahrnehmung der Welt ermöglicht. Näher und intensiver als zu Fuß kommt uns die Umgebung, in der wir uns bewegen, nie. Zu Fuß spüren wir die Welt am eigenen Leib. In den vorausgegangenen Erzählungen war immer wieder davon die Rede.